Schlagwort 'Geschichte'

2004: Arbeitsverdichtung

Sonntag, 21. April 2013 - 13:43

http://www.welt.de/print-welt/article283057/Verheizt.html

03.01.04
Verheizt!

Arbeitsverdichtung nennen Wissenschaftler die zunehmende Belastung im Job. Dem drohenden Bourn-out der Mitarbeiter entgehen Unternehmen, die ihre Mitarbeiter optimal einsetzen und unterstützen

Von Winfried Gertz

[...] Ist die Debatte um mehr Flexibilität in der Wirtschaft vielleicht eine Scheindebatte? Handelt es sich womöglich um ein Führungsproblem, weil es Managern schwer fällt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und ihren Mitarbeitern klare und realistische Ziele vorzugeben? Privat würde auch niemand auf die Idee kommen, mit seiner Großmutter auf den Mont Blanc zu klettern, doch Führungskräfte treiben ihre Mannschaft untrainiert den Berg hinauf. [...] Sind Unternehmen nicht längst in die Sackgasse geraten, weil Arbeit zunehmend als persönliche Belastung empfunden wird und Mitarbeiter Entscheidungen treffen müssen, die weit über ihren Verantwortungsbereich hinauswirken? [...]

Solche Artikel zeigen, wie lange das Thema schon auf dem Tisch ist und dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass sich die Unternehmen hier ohne schärfere Regelungen und konsequentere Aufsicht dazu bewegen lassen, sich an die Vorschriften des ganzheitlichen Arbeitsschutzes zu halten.

2004: Scheuklappen-Taktik in vielen Betrieben

Dienstag, 9. April 2013 - 08:01

http://www.upgrade-hr.com/wp-content/uploads/2010/11/Kostenfaktor_Stress.pdf, 2004-09-23

[...]

Scheuklappen-Taktik in vielen Betrieben

Dass zunehmender Druck am Arbeitsplatz zu gesundheitlichen Schäden führt, gehört noch längst nicht in jedem deutschen Unternehmen zum allgemeinen Kenntnisstand. Das ist erstaunlich, denn die Bertelsmann Stiftung hatte schon für das Jahr 2001 errechnet, dass depressive Störungen zu einem Produktionsausfall von beinahe drei Milliarden Euro in Deutschland geführt haben – ein Wert, der bei jeder Führungskraft für gesteigerte Aufmerksamkeit sorgen sollte. Doch die Realität sieht oft leider ganz anders aus: Obwohl das Arbeitsschutzgesetz den Unternehmen ausdrücklich die Verpflichtung zur Gefährdungsbeurteilung auch für psychische Belastungen vorschreibt, bleiben laut DGB-Analyse 95 Prozent der deutschen Firmen untätig. Die Folge: Wer in solchen Firmen Probleme mit dem Arbeitsumfeld oder dem Leistungsdruck hat, dem wird schnell das Etikett »nicht belastbar« oder gar »Drückeberger« angehängt. Dabei steht Unternehmen mit der Zertifizierung nach OHSAS 18001 (»Occupation Health and Safety Management«) ein leistungsfähiges Arbeitsschutz-Managementsystem zur Verfügung. Die Stadtwerke München setzen dieses System bereits seit Jahren erfolgreich im täglichen Betrieb ein. [...]

[...] Dass Zertifizierungen nach OHSAS 18001 für deutsche Unternehmen immer interessanter werden, bestätigt auch Lutz Wilink, TÜV Management Service: »In Amerika ist die Pflege des Human Capital längst etabliert – auch bei uns in Europa werden langfristig die Firmen Vorteile haben, die sich aktiv in der Gesundheitsvorsorge für ihre Mitarbeiter engagieren.« Die Vorteile der OHSAS 18001 liegen für Lutz Wilink klar auf der Hand: »Dieser Standard ist weltweit anerkannt und ist analog zur bewährten Qualitätsnorm ISO 9001 und Umweltschutznorm ISO 14001 aufgebaut – das vereinfacht die Integration in bestehende Managementsysteme ganz erheblich!«

Wer die psychische Belastung am Arbeitsplatz analysieren und reduzieren möchte, sollte entsprechende Projekte oder Programme idealerweise in bestehende Arbeitsschutzmanagementsysteme integrieren. Das geht z.B. auch mit dem von TÜV SÜD und Upgrade Human Resources entwickelten Balance-Check (siehe auch Interview links). Das Fragebogen-Konzept soll einen Ausgleich zwischen den vorhandenen Ressourcen und den tatsächlichen Belastungen in einem Unternehmen schaffen. Eswird bereits erfolgreich eingesetzt. [...]

Auch hier erweist sich wieder: Das Thema “psychische Belastungen” war schon seit 2004 genügend bekannt. Solche Dokumente zeigen, dass viele Unternehmer schon seit langer Zeit wissen mussten, dass sie ihre Pflichten im Arbeitsschutz missachten. Sie ließen den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz vorsätzlich schleifen.

Ministerium nimmt Personalvertretungen und Betriebsärzte in die Pflicht

Samstag, 23. März 2013 - 22:00

Auf eine Anfrage hin hat mir das Bayerische Staatsministerium für Arbeit- und Sozialordnung, Familie und Frauen (Referat II 3; Arbeitsmedizin, Arbeitsschutzorganisation, sozialer Arbeitsschutz) eine freundliche und ehrliche Antwort geschickt.

Vielen Dank für Ihre E-Mail vom 18. Februar 2013 an Staatsministerin Christine Haderthauer, in der Sie über Probleme bei der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich der Einbeziehung psychischer Belastungen berichten. Frau Staatsministerin hat uns, als das für die Arbeitsmedizin zuständige Fachreferat, mit der Beantwortung Ihrer E-Mail beauftragt.

Seit dem Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) im Jahre 1996 hat der Arbeitgeber alle erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit zu treffen. Bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen muss der Arbeitgeber auch die Gefährdung durch „psychische Belastungen“ mit einbeziehen.

Der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) hat auf seiner 54. Sitzung im September 2009 in Kiel die Veröffentlichung der LV 52 „Integration psychischer Belastungen in die Beratungs- und Überwachungspraxis der Arbeitsschutzbehörden“ beschlossen. Basierend auf dieser LASI-Publikation wird künftig in Bayern durch technisches und ärztliches Personal der Gewerbeaufsicht die Beratung zu und die Überwachung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in den Unternehmen von Seiten der Arbeitsschutzbehörden erfolgen. Diese Handlungshilfe wird es dem Aufsichtspersonal in der Praxis ermöglichen, grob orientierend Anhaltspunkte für psychische Fehlbelastungen in Betrieben zu erkennen und erforderliche betriebliche Maßnahmen anzustoßen.

Derzeit werden die bayerischen Gewerbeaufsichtsbeamtinnen und -beamten entsprechend geschult.

Zentraler Ansatzpunkt ist die Kontrolle der Gefährdungsbeurteilung. Allerdings ist festzustellen, dass es für die Gewerbeaufsicht oft nur sehr schwer möglich sein wird, auch bei vorhandener Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich psychischer Belastungen, im Rahmen einer Betriebsüberprüfung zu erkennen, ob (in bestimmten Bereichen) erhöhte psychische Belastungen vorliegen und ob ausreichende Maßnahmen getroffen wurden, diesen entgegenzuwirken. Einfacher wird es sein in Branchen, in denen es bekannter Weise zu erhöhten psychische Belastungen kommt.

Deshalb und in Anbetracht der sehr limitierten Personalressourcen wird es den bayerischen Arbeitsschutzbehörden nur möglich sein, die Unternehmen für die Belange psychischer Belastungen zu sensibilisieren und eine „Anstoßberatung“ durchzuführen. Kontrollen werden nur in Ausnahmefällen in die Tiefe gehen können.

Es steht außer Frage, dass Gefährdungsbeurteilungen auch in Hinblick auf psychische Belastungen „gelebt“ werden müssen. Die Verantwortung dafür trägt der Arbeitgeber. Sollte es hier Mängel geben, so gibt es ja gerade in großen Betrieben die Möglichkeit Probleme intern, über eine starke Personalvertretung oder den Betriebsarzt anzugehen. Die Behörde wird tätig, sobald ihr Defizite bekannt werden.

(Link und Hervorhebungen nachträglich in den Text eingetragen)

Die “Burnout Detektive” der Ministerin Haderthauer waren dann wohl eher eine Erfindung der Presse.

Es geht vermutlich nicht nur um Ressourcenprobleme, sondern auch um eine Gewerbeaufsicht, die sich gegenüber den Unternehmen nicht wirklich durchsetzen darf. Noch Anfang 2012 traute sich die Gewerbeaufsicht, zu schreiben:

[...] Psychische Fehlbelastungen lassen sich vermeiden. Die bayerische Gewerbeaufsicht überprüft die Betriebe und legt die Abhilfemöglichkeiten in einer Zielvereinbarung fest. [...]

Der Text ist inzwischen verschwunden.

Die Überforderung der Gewerbeaufsicht ist übrigens kein ausschließlich bayerisches Problem, sondern sie gefährdet die Arbeitnehmer bundesweit.

 


Vier Anmerkungen zu dem Brief:

Arbeitnehmervertretungen und Betriebsärzte in der Pflicht: Die offene und ehrliche Antwort des Staatsministeriums ist hilfreich, denn sie zeigt eine Lösung auf: Die Arbeitnehmervertretungen und die Betriebsärzte werden in die Pflicht genommen. Diese Lösung gibt es natürlich schon seit es das Betriebsverfassungsgesetz und das heutige Arbeitsschutzgesetz gibt! Aber es ist gut, wenn sich Betriebs- und Personalräte auch einmal von einer eher konservativen Staatsregierung anhören müssen, dass die Gewerbeaufsicht ohne engagierte Arbeitnehmervertretungen und Betriebsärzte auf einem verlorenen Posten steht. Wenn diese Akteure zu schüchtern und zu schlecht ausgebildet sind und die Gewerbeaufsicht nicht auf Defizite hinweisen, dann funktioniert die Kontrolle der Gefährdungsbeurteilung nicht.

Mehrbelastung von Arbeitnehmervertretern und Betriebsärzten: Hier sind Aufgaben auf die Arbeitnehmervertretungen und die Betriebsärzte (aber auch auf die Fachkräfte des Arbeitsschutzes) zugekommen, denen möglicherweise existierende Richtlinien zur Budgetierung nicht mehr gerecht werden. Sie müssen ja nun die Ressourcenprobleme der Behörden kompensieren. Für mutige Arbeitnehmervertretungen ist das kein unlösbares Problem: Zwar gilt weiterhin ein Betriebsverfassungsgesetz mit heute zu wenig Freistellungen, aber auch dank der ehrlichen Darstellung von behördlichem Ressourcenmangel durch Staats- und Bundesministerinnen werden Arbeitsrichter die Ressourcenprobleme der Personal- und Betriebsräte, der Betriebsärzte und der Fachkräfte für den Arbeitsschutz besser verstehen. Allerdings gibt es leider auch Arbeitnehmervertretungen, die zu schwach und zu kleinmütig sind, angemessene Ressourcen (z.B. Weiterbildung, externe Auditoren und Experten usw.) für sich durchzusetzen und Freistellungszeiten über das gesetzlich garantierte Mindestmaß hinaus auszudehnen.

Arbeitnehmervertreter zuständig für die Beurteilung der Arbeitsschutzqualität: Die Antwort des Staatsministeriums erlaubt noch eine weitere Schlussfolgerung: Gibt es nach einer Kontrolle durch die Gewerbeaufsicht keinen Mängelbericht, dann können Betriebe (in Bayern, aber wohl auch in anderen Ländern) trotzdem nicht behaupten, dass die Gewerbeaufsicht ihnen bestätigt habe, dass sie psychische Belastungen pflichtgemäß in den Arbeitsschutz einbeziehen. Das Ministerium verweist uns hier an die Arbeitnehmervertretungen und an die Betriebsärzte.
        Von den beiden genannten Akteuren im Arbeits- und Gesundheitsschutz haben nun wiederum die Arbeitnehmervertretungen die besseren Durchsetzungsmöglichkeiten. (Für die Fachkräfte der Arbeitsschutzes in den Betrieben ist das nicht so einfach.) Wehe den Mitarbeitern der Betriebe, in denen die Betriebsräte oder der Personalräte zu schüchtern oder/und zu schlecht ausgebildet sind, um Ihrer Mitbestimmungspflicht im Arbeitsschutz gerecht zu werden!

Falsches Verständnis von vertrauensvoller Zusammenarbeit: Angesichts der Bedeutung der Betriebs- und Personalräte für die Kontrolle des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ist es besonders bedenklich, wenn der Arbeitgeber und die Arbeitnehmervertretung vertrauensvolle Zusammenarbeit falsch verstehen und gemeinsam bei Besichtigungen durch Auditoren, durch die Gewerbeaufsicht und durch die Berufsgenossenschaft jene Vorfälle und Gefährdungen verheimlichen, die als arbeitsbezogene Ereignisse auftraten oder auftreten können, obwohl diese Vorfälle und Gefährdungen zum Beispiel physische und psychische Verletzungen oder Erkrankungen (bei OHSAS 18001 ohne Berücksichtigung der Schwere!) zur Folge hatten oder hätten zur Folge haben können. (Erkrankungen sind in diesem Zusammenhang erkennbare, nachteilige physische oder mentale Zustände, die durch eine Arbeitstätigkeit und/oder durch eine Arbeitssituation entstanden sind und/oder verschlechtert.)
        Solche Arbeitnehmervertretungen sind vielleicht sogar gefährlicher als gar keine Arbeitnehmervertretungen, denn sie nehmen den von ihnen vertretenen Mitarbeitern grundlegende Rechte im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Ein ziemlich entsetzliches Beispiel: Von konkreten Fällen starker psychischer Fehlbelastung betroffene Mitarbeiter werden alleine gelassen, damit die harmonische Zusammenarbeit zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat bei gemeinsamen Projekten nicht gestört wird.
        Betriebsräte, die (vielleicht in guter Absicht) einer Betriebsleitung helfen, Fälle psychischer Fehlbelastngen und das Fehlen wirklich wirksamer Beurteilungen psychischer Belastungen unter den Teppich zu kehren, werden am Ende zum Dank auch noch über den Tisch gezogen: Wenn der Arbeitgeber sich nach geschickter Vorbereitung und Vertuschungsarbeit in kleinen und unauffälligen Schritten sicher genug fühlt, wird er behaupten, dass sein Arbeitsschutz schon lange ganzheitlich gewesen sei, denn der Betriebsrat hätte ja in der Vergangenheit bei Besuchen der Gewerbeaufsicht die Aufsichtspersonen pflichtgemäß auf Defizite aufmerksam machen können. “Offensichtlich” habe es aber keine Defizite gegeben. Zum Schluss können der Arbeitgeber und die Gewerbeaufsicht den schwarzen Peter so zum Betriebsrat schieben - und zwar zu Recht!

Andererseits: Auch Betriebsräte können ausbrennen.

Noch einmal der Hinweis: LASI-Veröffentlichungen

Das Arbeitsschutzgesetz bleibt ein Rahmengesetz

Samstag, 9. März 2013 - 14:37

Dieser Artikel wurde durch einen Blogeintrag in blog.humanresourcesmanager.de zur vorgesehenen Änderung des Arbeitsschutzgesetzes angeregt (http://blog.humanresourcesmanager.de/2013/03/08/psychische-belastungen-bei-der-arbeit/):

[...] Auch wenn es zu begrüßen ist, dass der Gesetzgeber eine gesetzliche Grundlage dafür schafft, dass das betriebliche Gesundheitsmanagement auch auf psychische Belastungen ausgeweitet werden kann, bleiben in der Praxis weiterhin viele Fragen offen. Insbesondere ist es für das Unternehmen nach wie vor schwer, zu erkennen, ob ein Arbeitnehmer tatsächlich psychisch erkrankt ist oder unter dem Deckmantel eines Burn-outs eine Krankheit lediglich vortäuscht und hierdurch umfangreiche Kosten verursacht [...] 

Jens Ginal erläutert auch,

  • dass bereits in der Vergangenheit galt, dass der Arbeitgeber auch dafür Sorge tragen muss, die Arbeitnehmer vor allen Faktoren zu schützen, die eine psychische Erkrankung auslösen können und
  • dass nach der vorgesehenen Änderung des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) im Rahmen der nach § 5 Abs. 3 ArbSchG zu berücksichtigenden Gefährdungsfaktoren auch „psychische Belastungen bei der Arbeit“ einzubeziehen sind.

Weil gemäß Arbeitsschutzgesetz Arbeitsplätze beurteilt werden und nicht Erkrankte, geht Jens Ginals Hinweis auf offen bleibenden Fragen in die falsche Richtung. Ob ein Arbeitnehmer tatsächlich psychisch erkrankt ist oder eine Krankheit lediglich vortäuscht, ist kein Problem des Arbeitsschutzgesetzes. Das Arbeitsschutzgesetz ist so konstruiert, das Arbeitgeber genau auf diese Frage nicht ausweichen können. Da kann es dann z.B. darum gehen, ob bei einem Arbeitsplatz vorgetäuscht wird, ob er psychisch fehlbelastend sei, oder nicht ;-) Es kann ja auch vorkommen, dass Gefährdungsbeurteilungen falsch und Arbeits(platz)beschreibungen nicht realistisch sind. Es gibt Unternehmen, die selbst krasse Fälle psychischer Fehlbelastungen vor Audits verstecken.

Außerdem schafft der Gesetzgeber keine gesetzliche Grundlage dafür, dass das “Betriebliche Gesundheitsmanagement” (BGM) auch auf psychische Belastungen ausgeweitet werden kann. Diese Grundlage gibt es schon seit 1996. Sondern der Gesetzgeber schafft nun nur noch eine Grundlage für weniger Streit bei der Umsetzung der geltenden Vorschriften des Arbeitsschutzes: Spätestens im Jahr 2004 machte das BAG klar, dass der vorgeschriebene Arbeits- und Gesundheitsschutz (das freiwillige BGM ist hier kein Thema) seit Bestehen des Arbeitsschutzgesetzes auch auf psychische Belastungen ausgeweitet wurde. Die Arbeitgeber sollen nicht so tun, als ob das jetzt erst nach einer Änderung des Arbeitsschutzgesetzes klar werden würde.

 
Tatsächlich bleiben aber auch im geänderten Arbeitsschutzgesetz Fragen offen, und zwar mit Absicht: Wie sollen “psychische Belastungen bei der Arbeit” als Gefährdungsfaktoren berücksichtigt werden? Wo ist die Grenze zwischen Belastung und Fehlbelastung? Dass diese Fragen offen bleiben, liegt daran, dass das Arbeitsschutzgesetz (im Gegensatz zu der von den Ländern vorgeschlagenen “Anti-Stress-Verordnung”) ein Rahmengesetz geblieben ist, innerhalb dessen der Arbeitgeber den Arbeitsschutz betriebsnah gestalten muss. So wollten die Arbeitgeber das Ende des letzten Jahrhunderts. Sie argumentierten, dass bei zu engen konkreten Vorgaben in den unterschiedlichen Unternehmen keine betriebsgerechten Lösungen möglich seien. Die Erarbeitung konkreter Normen wurde also aus der Legislative in die Betriebe verlagert. Dass das Arbeitsschutzgesetz seit 1996 viele Fragen offen lässt, ist die logische Konsequenz aus diesem von den Arbeitgebern gewünschten und in einer eropäischen Richtlinie entsprechend bestimmten Vorgehen. Genau aus diesem Grund gehört zur Gestaltungspflicht der Arbeitgeber die Mitbestimmungspflicht der Arbeitnehmervertreter.

Der weite Rahmen, den das Arbeitsschutzgesetz bietet, bedeutet nun aber nicht, dass ein Arbeitgeber beispielsweise einfach fünf Punkte zur psychischen Belastung (wobei der letzte Punkt 10.5 ein noch auszugestaltendes “Sonstiges” ist) aus einer Leitlinie der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzinitiative (GDA) in Vordrucke zur Gefährdungsbeurteilung eintragen und dann behaupten kann, es gäbe keine festen Vorgaben, mit denen sich Pflichtverletzungen nachweisen ließen. Manche Arbeitgeber “vergessen” hier nämlich das Betriebsverfassungsgesetz und die Urteile des BAG (z.B. 2004) zur Gefährdungsbeurteilung. Wendet der Arbeitgeber in einem Betrieb mit Arbeitnehmervertretern ein derart zusammengebasteltes Formular ohne Respekt für die Mitbestimmung an, dann stellt sich sogleich die Frage, ob er ein Straftäter ist, weil er die Mitbestimmung behindert hat. Einsetzen darf der Arbeitgeber solche Formulare erst, wenn er auch Prozesse gestaltet hat, mit denen dieses Formular nachvollziehbar ausgefüllt werden können. Die Arbeitnehmervertreter können bei der Gestaltung mitarbeiten, in jedem Fall müssen sie aber nach Abschluss der Gestaltung und vor der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen mitbestimmen.

Arbeitgeber und Arbeitnehmer können z.B. mit einer Betriebsvereinbarung regeln, wie psychische Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung (und auch in die vorgeschriebene Unterweisung der Mitarbeiter) einbezogen werden sollen. Können sie sich nicht einigen, dann hilft zunächst eine Einigungsstelle. Wie auch immer, auf die Mitbestimmung darf keinesfalls verzichtet werden. Sie ist auch für die Arbeitnehmervertreter nicht nur ein Recht, sondern eine unabdingbare Pflicht, denn im Betriebsverfassungsgesetz steht nicht, dass sie mitbestimmen dürfen, sondern dass sie mitzubestimmen haben. Das ist sogar manchen Pesonal- und Betriebsräten immer noch nicht klar.

Übrigens: Die GDA hat nicht von Null angefangen. Der LASI leistete eine enorme Vorarbeit.

Koalition gegen Stress

Sonntag, 27. Januar 2013 - 12:01

Hier einmal ein Beispiel für einen guten Artikel zum Thema der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz: http://www.welt.de/print/wams/wirtschaft/article113157196/Grosse-Koalition-gegen-Stress.html

Welt am Sonntag 27.01.13
Große Koalition gegen Stress

Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politik wollen gegen die steigende Zahl der Burn-out-Fälle vorgehen. Dabei sind sie sich nicht einmal über deren Ursachen einig
Von Ileana Grabitz und Flora Wisdorff

Nichts lag dem Arbeitgeberpräsidenten bislang ferner als einzugestehen, dass Arbeit auch krank machen kann: Erst jüngst verwehrte sich Dieter Hundt, Chef der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände, wieder vehement gegen die Kritik, dass die Unternehmen an der drastischen Zunahme psychischer Erkrankungen zumindest eine Mitschuld tragen könnten. Derlei Erkrankungen seien kein durch Arbeit verursachtes Problem, erklärte Hundt entrüstet. Entscheidend sei vielmehr die persönliche Disposition und das Lebensumfeld der Betroffenen: “Die wesentlichen Ursachen liegen in genetischen und entwicklungsbedingten Faktoren, im familiären Umfeld und im Freizeitverhalten”, war sich der Arbeitgeberpräsident sicher. Die Unternehmen könnten “nicht alles reparieren, was in Einzelfällen in anderen Lebensbereichen schiefläuft”.

So überzeugt Hundt damals urteilte: Kurz vor einem Gipfeltreffen, an dem das Bundesarbeitsministerium, hochrangige Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter erstmals gemeinsam nach Rezepten gegen den Stress am Arbeitsplatz fahnden wollen, schlägt der Verbandschef in der “Welt am Sonntag” nun spürbar sanftere Töne an. …

 
Nun zu einer neuen Argumentationstaktik der Arbeitgeber: http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2013-01/25802964-stress-am-arbeitsplatz-bda-will-auf-gewerkschaften-zugehen-003.htm

… Auch Hans-Joachim Wolff, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), sieht die Arbeitgeber in der Pflicht: Die Gründe für psychische Fehlbelastungen am Arbeitsplatz seien zwar vielfältig, betont Wolff gegenüber der “Welt am Sonntag”. Einen zentralen Einfluss habe aber auch das Verhalten der Führungskräfte. Wichtig sei daher, “für jeden Arbeitsplatz eine Gefährdungsbeurteilung zu erstellen, die auch die psychischen Belastungen mit einschließt”. Schon heute habe die DGUV dabei einen Katalog von Leitlinien [http://blog.psybel.de/dguv-infos/] in petto, an denen sich Unternehmen orientieren könnten. Die Arbeitgeber sehen den Handlungsbedarf jedoch vor allem an anderer Stelle: Der Erfolg einer psychotherapeutischen Behandlung hänge wesentlich von der frühen Erkennung und richtigen Einordnung ab, moniert Arbeitgeberchef Hundt. Deshalb sei der Zustand “unhaltbar, dass Betroffene im Schnitt drei Monate auf das Erstgespräch für eine psychotherapeutische Behandlung warten” müssten. “Ich erwarte von der Gesundheitspolitik, den Ärztevereinigungen und den Krankenkassen, dass sie diesen Missstand entschlossen beheben”, so Hundt.

Hier kommt zu den bekannten Argumentationsmustern der BDA noch ein neues (bzw. eine Variation älterer Argumente) hinzu: Die Mahnung, bessere Verhältnisprävention zu betreiben, pariert Dieter Hundt nun mit der Forderung, durch frühzeitigere psychotherapeutische Behandlung individuelles Verhalten zu ändern. Auf den ersten Blick klingt das nach einer Unterstützung erkrankter Menschen, aber Behandlung ist schon keine Prävention mehr. Hier wird ein neuer “Red Herring” in die Debatte geschmissen, der von den vorgeschriebenen Prioritäten ablenkt: Im Arbeitsschutz wird Verhältnisprävention gefordert, nicht Verhaltensbehandlung. Hundt versucht nun, den Schwarzen Peter zu den Psychotherapeuten zu schieben. Die Tricks hören nicht auf.

Selbst die Medien halten sich bei der Feststellung einer Tatsache zurück: 80% der Unternehmen haben psychische Belastungen nicht in ihren Arbeitsschutz integriert. Sie begehen eine Ordungswidrigkeit. Das ist spätestens seit 2004 klar. Die Nachhaltigkeit, mit der sie ihre Pflichten im Arbeitsschutz missachteten, lässt sogar an strafbares Handeln denken. Da ist ja nun wohl etwas Grant erlaubt: Alleine ihrer wirtschaftlichen Stärke ist es wohl zu verdanken, dass die Unternehmen, die diese Vergehen begingen, nicht zur Veranwortung gezogen wurden und eine ausgedünnte Gewerbeaufsicht ziemlich hilflos dabei zusehen musste. So rücksichtsvoll wird beispielsweise mit den wohl weniger “systemrelevanten” und deswegen gnadenloser beaufsichtigten kleinen Harz-IV-Betrügern nicht umgegangen, obwohl diese mit ihren Vergehen kaum Körperverletzungen riskieren. Dass die BDA dann noch entschlossens Handeln bei der Therapie psychischer Krankheiten fordert, ist Chuzpe vom Feinsten.

Ich erwarte von den Arbeitgebern, dass sie die Vorschriften des Arbeitsschutzes entschlossen respektieren. Es mag sein, das der Hinweis auf ihren Rechtsbruch die betroffenen Unternehmer nicht motiviert, ihren Pflichten nachzukommen. Politiker, Gewerkschaften, Behörden und Unternehmensberater sind deswegen diplomatisch. Mir jedoch geht es um eine zukünftig illusionslosere Gesetzgebung. Nicht nur die Erfahrungen mit der “Bankenkrise”, sondern auch mit der modernen “entbürokratisierten” Arbeitschutzgesetzgebung sollten gezeigt haben, dass eine konsequente Aufsicht der Unternehmen unerlässlich ist.

Psychische Erkrankungen: Fehlzeiten zwischen 2007 und 2011 um 50% gestiegen

Samstag, 26. Januar 2013 - 12:14

Die Zeitschrift “Focus” berichtete unter Berufung auf Zahlen der Techniker Krankenkasse wieder einmal, dass psychische Belastungen zunähmen. Die Zahl der Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen ist zwischen 2007 und 2011 um etwa 50 Prozent gestiegen. Die Zahl der Klinikaufenthalte wegen Depressionen und der Menge der verordneten Antidepressiva hat einen ähnlichen Verlauf genommen. In den Medien wird in diesem Zusammenhang auf die Forderung von DGB-Vorstandsmitglied nach einer Anti-Stress-Verordnung und Sanktionen für Arbeitgeber berichtet. Und Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr grätschte sogleich rein und rief die Unternehmen wieder einmal auf, gesundheitsfördernde Bedingungen zu schaffen. Die sind freiwillig und für die Arbeitnehmer nicht immer kostenlos, wenn sie dafür Geld und Urlaub aufbringen müssen. Vorgeschrieben, von den Arbeitgebern zu bezahlen und von der Mehrheit der Unternehmen (spätestens seit 2004 wissentlich) vernachlässigt wurde dagegen der Arbeitsschutz, ohne den die betriebliche Gesundheitsförderung keinen Sinn macht. Das ist in den Medien anscheinend noch immer nicht so recht angekommen. Für den “Focus” ist Bahr aber in dieser Sache relevant. Auch Chefredakteure lenken als Arbeitgeber gerne mit Betrieblicher Gesundheitsförderung vom strengeren Arbeitsschutz ab.

Für den Arbeitsschutz ist die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen zuständig. Anlässlich des Starts der neuen Arbeitsperiode der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) 2013 – 2018 lädt sie zu der Auftaktveranstaltung “Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wir machen es zum Thema!” ein. Auf die geplanten Änderungen im Arbeitsschutzgesetz geht der Focus allerdings auch ein: http://www.focus.de/gesundheit/gesundleben/tid-29210/fehlzeiten-schnellen-nach-oben-neue-initiative-soll-psycho-stress-im-job-eindaemmen-bahr-aufgabe-der-betriebe_aid_906194.html

… Arbeitsministerin von der Leyen hat Ende des vergangenen Jahres immerhin eine Klarstellung im Arbeitsschutzgesetz durchgesetzt. Nun steht dort [langsam, das war zunächst einmal nur ein Kabinettsbeschluss], dass auch übermäßige psychische Belastungen am Arbeitsplatz ein Gesundheitsrisiko darstellen können. [Das gilt nach BAG-Beschlüssen auch jetzt schon!] Für von der Leyen reicht das erst einmal aus, das sei schon „ein sehr scharfes Gesetz“ [für dessen Missachtung die große Menge der Verweigerer aber nicht bestraft wurden], sagt sie und setzt darüber hinaus ebenfalls auf unverbindliche Hilfen und Informationen. Die von den Gewerkschaften geforderte Anti-Stress-Verordnung sieht sie zumindest skeptisch, hat sich aber nicht ausdrücklich festgelegt. Denn die Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer wollen eine solche Verordnung über den Bundesrat durchsetzen – und dort hat die schwarz-gelbe Regierungskoalition keine Mehrheit mehr. …

(Links und Anmerkungen nachträglich eingetragen)

Schutzlücke beim Arbeitsschutz schließen

Samstag, 5. Januar 2013 - 16:30

Ende November 2012 hatte es die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) noch geschafft, sich zu einem Enwurf zu einer Art “Anti-Stress-Verordnung” zu entschließen. Ein Zitat aus dem Protokoll:

Erschwerend kommt hinzu, dass die rechtliche Unverbindlichkeit dafür sorgt, dass im Spannungsfeld zwischen Unternehmensleitungen und staatlicher Aufsicht die Durchsetzungsfähigkeit für konkrete Forderungen an die Betriebe stark eingeschränkt ist.

 
Vorweg gleich eine Kritik: Ähnlich wie Arbeitgeber, sprechen anscheinend auch Politiker lieber über Wohltaten für ihre Schutzbefohlenen, als diese selbst bei der Gestaltung ihres Schutzes in den Betrieben mitbestimmen zu lassen. Obwohl es hier um den Schutz von Arbeitnehmern geht und gerade im Arbeitsschutz eine zwingende Mitbestimmungspflicht herrscht, interessieren sich die “Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder” (auch der SPD) in der ASMK kaum dafür, wie die Zielgruppe ihrers Vorschriftenentwurfs in den Betrieben praktisch mitbestimmt und wie man gegen die nicht seltene Straftat der Behinderung der Mitbestimmung vorgeht. Speziell bei Thema der Defizite in den Betrieben hätte die auch Qualifizierung der Arbeitnehmervertreter angesprochen werden müssen.

Die ASMK hat ignoriert, dass gerade die Gewerkschaften und die Betriebsräte (sowie nur vereinzelt auch die Arbeitsschutzbehörden) die aktivsten Impulsgeber beim Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz waren.

 

http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/3705684/2012-11-29-bgv-asmk-psychische-belastungen.html

… In der Verordnung soll als Konkretisierung des Arbeitsschutzgesetzes der Umgang mit arbeitsbedingten psychischen Belastungen verbindlich geregelt werden. Unternehmen sollen demnach künftig verpflichtend ermitteln, ob und welche Gefährdungen am Arbeitsplatz auftreten, etwa durch die Arbeitsaufgabe, -mittel, -organisation oder durch soziale Bedingungen. Die Verordnung soll Maßnahmen benennen, die eine mögliche Gesundheitsgefährdung durch psychische Belastungen verringern oder vermeiden. Ebenso sollen Risikofaktoren und Gestaltungsgrundsätze festgeschrieben werden, die in Betrieben zu berücksichtigen sind. Die Verordnung soll die Anforderungen an Betriebe dabei ebenso klar wie verbindlich beschreiben, so dass die Arbeitsschutzbehörden prüfen können, ob Unternehmen diese angemessen erfüllen. …

 

http://www.spdfraktion.de/presse/pressemitteilungen/schutzlücke-beim-arbeitsschutz-schließen

Pressemitteilung
Schutzlücke beim Arbeitsschutz schließen

Stand: 29.11.2012
Dokument Nummer: 1346
Arbeitsgruppen: Arbeit und Soziales
Abgeordnete/r: Anette Kramme, Josip Juratovic
Themen: Arbeit , Soziales

Zum heutigen Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zu psychischen Belastungen bei der Arbeit erklären die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Anette Kramme und der zuständige Berichterstatter Josip Juratovic:

Wir begrüßen diese Initiative ausdrücklich. Bisher ist alles mögliche im Arbeitsschutz per Verordnung geregelt – im Bereich psychische Belastungen fehlt jedoch eine Verordnung. Wir müssen diese Schutzlücke schließen und eine Anti-Stress-Verordnung schaffen. Ähnlich wie beim Lärmschutz muss es belastbare Vorgaben geben, um Angestellte besser vor Stress zu schützen. Wir fordern das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf, zügig eine solche Verordnung zu erlassen.

Die Fehltage aufgrund von psychischen Erkrankungen haben stark zugenommen. Im vorletzten Jahr gab es insgesamt 53,5 Millionen psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeitstage – das sind 80 Prozent mehr als im Jahr 2001. Diese Zahlen sind alarmierend. Wohlfeile Ankündigungen der Ministerin von der Leyen reichen nicht. Konkrete rechtliche Schritte sind nötig.

Die SPD setzt vor allem auf Prävention. Psychische Belastungen in der Arbeitswelt müssen so weit es geht vermieden werden. Dazu brauchen wir klare Regeln im Arbeitsschutz. Die von den Ländern geforderte Anti-Stress-Verordnung ist ein sinnvoller und gangbarer Weg. Zweitens wollen wir, dass mehr Unternehmen als bisher Gefährdungsbeurteilungen erstellen und dabei auch psychische Belastungen beachten. Drittens muss das betriebliche Gesundheitsmanagement unterstützt und gefördert werden.

 


ASMK-Protokoll: http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2013/01/Protokoll_ASMK_2012.pdf, S. 158-168
TOP 7.29
Psychische Belastungen bei der Arbeit
Antragsteller: Brandenburg, Bremen, Hamburg,
Nordrhein-Westfalen

Beschluss:
Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder haben mehrheitlich beschlossen:

Arbeitsbedingte psychische Belastungen sind zu einem zentralen Thema der gesundheits- und arbeitsschutzpolitischen Diskussion geworden. Nach den Auswertungen der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit gehört arbeitsbedingter Stress zu den wesentlichen gesundheitsgefährdenden Ursachen in der Arbeitswelt. Nach den Berechnungen der Krankenkassen werden die jährlichen Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen in Deutschland auf insgesamt über 43 Milliarden Euro geschätzt, die sich aus etwa 19 Milliarden Euro direkter und 25 Milliarden Euro indirekter Kosten zusammensetzen. Bei den direkten Kosten nehmen die psychischen Störungen mit ungefähr drei Milliarden Euro nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen den zweiten Rang ein. Im Hinblick auf die indirekten Kosten lösen die psychischen Störungen mit gut 3 Milliarden Euro die zweithöchsten Kosten aus, bezüglich der indirekten Kosten durch Frühberentung sogar die höchsten. Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder:

1. stellen fest, dass ein dringender Handlungsbedarf für den Arbeitsschutz besteht, die negativen Auswirkungen arbeitsbedingter psychischer Belastungen zu vermeiden oder zu verringern. Die gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen, als auch die enormen betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten erfordern Anstrengungen aller Akteure.

2. halten es für erforderlich, dass die Aufsichtsbehörden hinsichtlich arbeitsbedingter psychischer Belastungen mit den in diesem Themenfeld agierenden Akteuren, Netzwerken und Sozialpartnern kooperieren müssen, insbesondere mit den Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern.

3. sprechen sich dafür aus, dass die staatlichen Arbeitsschutzbehörden ihre Aktivitäten im Handlungsfeld „arbeitsbedingte psychische Belastungen“ auf der Grundlage der vorhandenen Konzeptionen und Handlungshilfen weiter intensivieren.

4. sind der Auffassung, dass für arbeitsbedingte psychische Belastungen die rechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich der Grundpflichten der Arbeitgeber, der Anforderungen an die entsprechende Gefährdungsbeurteilung und zur Umsetzung präventiver Maßnahmen nicht hinreichend konkret beschrieben sind. Sie bitten die Bundesregierung, die notwendigen Rechtsgrundlagen für eine angemessene Überwachung und Beratung der Betriebe zu arbeitsbedingten psychischen Belastungen zu schaffen und die Länder an der Erarbeitung zu beteiligen.

Protokollnotiz Baden-Württemberg:
Eine zu erlassende Verordnung sollte gegebenenfalls durch ausreichend bestimmte Rechtsbegriffe die Arbeit der Arbeitsschutzbehörden und das Engagement der Unternehmen erleichtern und die Kooperationsbereitschaft der Arbeitgeber und der anderen Akteure nicht beeinträchtigen. In diesem Sinne und mit dem Ziel der Verschlankung sollte der vorliegende Arbeitsentwurf mit Stand vom 21.09.2012 noch einmal kritisch überprüft und überarbeitet werden.

Anlage zu TOP 7.29 der 89. ASMK
Eckpunktepapier:
Psychische Gesundheit bei der Arbeit schützen und fördern
1 Psychische Belastungen in der Arbeitswelt – Eine Herausforderung für Betriebe und Aufsichtsbehörden …
2 Europäischer Rahmen …
3 Handlungskonzepte der Länder …
4 Umsetzungsdefizite …
    Defizite in Betrieben …
    Defizite im Aufsichtshandeln …

    Gesetzlicher Rechtsrahmen fehlt …
5 Umsetzungsvorschläge …
    Betriebliche Umsetzung stärken …
    Mehr Verbindlichkeit durch Rechtsoffensive schaffen …
    Mehr Wirksamkeit des Aufsichtshandelns erhöhen …
    Ziel der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie Nachdruck verleihen …
6 Grundzüge einer „Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch psychische Belastungen bei der Arbeit“ …

 


Links:

Politik erleichterte Missachtung des Arbeitsschutzes seit 1996

Samstag, 5. Januar 2013 - 14:00

http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/13/048/1304854.pdf

Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode
Drucksache 13/4854 (zu Drucksache 13/4756)
12.06.96
Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
- Drucksachen 13/3540,13/4337,13/4756 -
Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtlinien
Bericht der Abgeordneten Manfred Grund, Konrad Gilges, Annelie Buntenbach, Dr. Gisela Babel und Petra Bläss …

… Die Mitglieder der Fraktion der F.D.P. erinnerten daran, daß sie den in der letzten Wahlperiode vorliegenden Gesetzentwurf, der den Arbeitsschutz nicht verbessert, sondern allenfalls bürokratisiert hätte, gestoppt hätten. Mit Genugtuung bewerte man, daß die Bundesregierung nun einen wesentlich vereinfachten, verschlankten und entbürokratisierten Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie vorgelegt habe. Positiv sei insbesondere, daß die Beurteilungs- und Dokumentationspflichten des Arbeitgebers auf ein angemessenes Maß zurückgeführt worden seien. Zudem sei für kleine Betriebe, die weniger als zehn Arbeitnehmer beschäftigten, ein hohes Maß an Flexibilität gewährleistet. Ferner werde auf die Einsetzung neuer bürokratischer Arbeitsschutzgremien verzichtet. Die Mitglieder der Fraktion der F.D.P. machten deutlich, daß es ihnen nicht darum gehe, den Arbeitsschutz soweit wie möglich zu reduzieren; vielmehr gehe es der Fraktion der F.D.P. im Bereich des Arbeitsschutzes nicht um mehr, sondern um bessere Regeln. Man wolle nicht den Arbeitsschutz auf dem Papier immer weiter reglementieren und perfektionieren, sondern seine Umsetzung in der Praxis fördern und verstärken. …

(Siehe auch: http://blog.psybel.de/arbeitsschutzgesetz-im-bundestag/)

Wie sieht nun die Praxis im Arbeitsschutz seit 1996 aus? Die FDP beteiligte und beteiligt sich besonders engagiert an einem Projekt, die Missachtung des Arbeitsschutzes großzügig zu erleichtern. So ist es bis heute möglich, dass Unternehmen ohne ganzheitlichen Arbeitsschutz von überforderten Gewerbeaufsichten immer noch bestätigt wird, ihr Arbeitsschutz sei vollständig in Ordnung. Das liegt zum Teil wohl auch daran, dass Aufsichtspersonen frühere Versäumnisse zugeben müssten, wenn sie gründlich arbeiten würden. Auf dieser Basis können Prüfer und Geprüfte natürlich verständnisvoll miteinander auskommen. Dabei ist es hilfreich, dass man die Beurteilungs- und Dokumentationspflichten des Unternehmers ziemlich vergessen kann.

“Systemkontrolle”: Die FDP setzt (zusammen mit den Arbeitgebern) auf die Kontrolle von Arbeitsschutzmanagementsystemen innerhalb der Privatwirtschaft. In der Folge ist auch die privatwirtschaftlich organisierte Vorzeige-Kontrolle (also das das Zertifizierungsgeschäft) im Bereich des Arbeitsschutzes so konstruiert, dass sie gut aussieht, aber die Arbeitnehmer nicht wirklich schützt. Allerdings verdienen einige Leute mit ihren ritualisierten Kontrollen einiges Geld. Auditoren und Auditierte kommen auch hier gut miteinander aus, und die Betriebsräte sind ahnungslos genug, dass sie die Harmonie des Geschäftes nicht stören.

Es überwiegen interne Audits (Manchmal auditieren Auditoren dabei ihre eigene Arbeit) und Zertifizierungsaudits (Auditoren werden von den Auditierten bezahlt). Dass darüberhinaus Kunden ihre Lieferanten beispielsweise nach OHSAS 18001 auditieren, ist zwar theoretisch möglich, aber in der Praxis haben Kunden kein Interesse, die wirklichen Arbeitsbedingungen bei ihren Lieferanten zu verstehen und eventuell einen kostengünstigen Anbieter zu verlieren.

Seit 1996 ermöglicht eine verlogene und unredliche Politik fast aller etablierten Parteien genau die Anarchie, die heute im Arbeitsschutz herrscht.

Arbeitsschutz vs. Gesundheitsförderung

Freitag, 21. Dezember 2012 - 06:41

Die Bekämpfung des mitbestimmten Arbeitsschutzes als Gegensatz zu einer vermeitlich besseren Gesundheitsförderung hat schon eine längere Geschichte.

Wolfgang Kohte: Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung, Absatz “1988″ Erstarrter Arbeitsschutz – Betriebliche Gesundheitsförderung? und Dominanter Arbeitsschutz – Schrumpfende Gesundheitsförderung?, erschienen in: Holger Pfaff, Wolfgang Slesina: Effektive Betriebliche Gesundheitsförderung, 2001

Das Kapitel ist auch geschichtlich sehr interessant. Aber mich interessiert insbesondere die Mitbestimmung:

… Während im gesetzlichen Arbeitsschutz Regelungen der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG unterliegen und durch Spruch der Einigungsstelle entschieden werden können, sind Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber über die Durchführung von Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung der konsensualen Mitbestimmung des § 88 [Freiwillige Betriebsvereinbarungen] BetrVG zuzuordnen, so dass solche Regelungen nicht erzwingbar sind. …

Kohte meint damit, dass die Mitbestimmung in der freiwillige Gesundheitsförderung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung auch nur freiwillig in einer Betriebsvereinbarung geregelt werden kann.

Dier Regelungen sind erzwingbar, denn Kohte vergisst, dass Maßnahmen in der Gesundheitsförderung natürlich dann wieder mitbestimmungspflichtig sind, wenn es sich dabei um Arbeitsschutzmaßnahmen handelt. Freiwillige Betriebsvereinbarungen bieten sich natürlich trotzdem an, gemeinsame Regelungen zu finden. Die Mitbestimmung lässt sich nicht dadurch umgehen, dass Arbeitsschutzmaßnahmen in die Gesundheitsförderung eingebettet werden. Im Gegenteil, dort, wo Elemente des Gesundheitsschutzes für den Arbeitsschutz benötigt werden und damit eine Voraussetzung für einen funktionierenden Arbeitsschutz sind, herrscht die starke Mitbestimmungspflicht der Arbeitnehmervertretungen für Arbeitsschutz auch in der Gesundheitsförderung. Johannes Denck, ZfA 1976, S. 452: “Der Wirkungsbereich des § 89 [Arbeits- und betrieblicher Umweltschutz] Abs 1 Nr 7 BetrVG erstreckt sich auf den Arbeitsschutz schlechthin.”

Kothe zufolge ordnete Wolfgang Slesina die Gesundheitsförderung dem autonomen Arbeitsschutz zu. Mit ein bisschen Googeln stoßen wir hier auf eine interessante Diskussion (http://www.google.com/search?q=autonomer+arbeitsschutz), in der diesem Arbeitsschutz der gesetzliche Arbeitsschutz gegenübergestellt wird. Nach meinem Eindruck war der Kampf um die Mitbestimmung hier einer der Treiber des Versuches der durchaus umstrittenen Unterscheidung zwischen einem autonomen und einem gesetzlichen Arbeitsschutz. Diese Diskussion scheint aber inzwischen verstummt zu sein, vielleicht weil heute die betriebliche Gesundheitsförderung den Platz des Bereichs eingenommen hat, der mit dem Begriff des autonomen Arbeitsschutzes aus der Mitbestimmung herausgehalten werden sollte.

In dem Moment, in dem sich ein Unternehmen nach OHSAS 18001 zertifizieren lässt, kommt zu den gesetzlichen Regelungen der Mitbestimmung noch die Selbstverpflichtung des Arbeitgebers hinzu. Betriebsräte wissen meistens nicht, dass sie in zertifizierten Betrieben in Vorfalluntersuchungen einzubeziehen sind, also in die Untersuchung aller Ereignisse, die eine Verletzung oder Erkrankung (ohne Berücksichtigung der Schwere) oder einen tödlichen Unfall zur Folge hatten oder hätten zur Folge haben können. (Erkrankungen sind erkennbare, nachteilige physische oder mentale Zustände, die durch eine Arbeitstätigkeit und/oder durch eine Arbeitssituation entstanden sind und/oder verschlechtert wurden.) Über OHSAS 18001 nicht ausreichend informerte Betriebsräte versäumenzu leicht auch, ihr Recht wahrzunehmen, in Veränderungen, die sich auf ihren Arbeits- und Gesundheitsschutz auswirken, einbezogen zu werden. Die Betriebliche Gesundheitsförderung führt aber offensichtlich zu solchen Veränderungen. Sonst wäre sie nichts wert.

Arbeiten Sie mit Ihrem Betriebsrat zusammen

Montag, 26. November 2012 - 07:28

http://www.agv-bochum.de/aus-den-verbaenden/details/item/mehr-als-das-klassische-burnout/detail/News.html und http://www.agv-bochum.de/fileadmin/media/agv-bochum/pdf/Nachgelesen_Psychische_Gesundheit.pdf

Mehr als das “klassische Burnout” – 22.11.2012

Effizient, qualitativ hochwertig, produktiv und zuverlässig. Diese Attribute zeichnen das erfolgreiche Unternehmen aus. Um dies zu gewährleisten, ist es auf erstklassige Mitarbeiter angewiesen. Gesunde Mitarbeiter. Nicht negativ beanspruchte Mitarbeiter. Immer stärker ins Bewusstsein rückt dabei die „psychische Gesundheit“. Diplom-Psychologe Axel Hofmann (METALL NRW) und Dr. Stephan Sandrock (Institut für angewandte Arbeitswissenschaft) gaben im Haus der Arbeitgeberverbände Ruhr/Westfalen Tipps, wie psychische Belastungen am Arbeitsplatz erkannt, bekämpft und gemindert werden können.

Wann ist das Maß voll?

Einer Zwischenfrage aus dem Kreis der Seminarteilnehmer, wie plötzliche und unerwartet auftretende psychische Störungen durch den Arbeitgeber zu verhindern seien, konnten Axel Hofmann und Dr. Stephan Sandrock keine abschließende Antwort geben. Aus einem einfachen Grund: Es gibt keine. „Wo ist der konkrete Arbeitsbezug? Wann ist das Maß voll? Das können wir nicht sagen, weil das eine sehr individuelle Angelegenheit ist. Und noch einmal: Der Auslöser muss nicht zwingend Arbeitsbezug haben, sondern kann privater Natur sein und somit außerhalb der Fürsorgepflicht liegen“, so Axel Hofmann.

Um die Mitarbeiter auf diesem Gebiet aber zu sensibilisieren, bieten sich Schulungen für Führungskräfte und Mitarbeiter des Personalwesens an, um auf Probleme in der Mitarbeiterschaft im Rahmen der Möglichkeiten zu reagieren und diese überhaupt erst identifizieren zu können. Zusätzlich können Unternehmen Netzwerke aufbauen, um betroffenen Mitarbeitern Ansprechpartner zu vermitteln. „Arbeiten Sie mit Ihrem Betriebsrat zusammen. Ermutigen Sie ihn, den Weg gemeinsam zu gehen. Und gehen Sie mit einer anderen Brille durch den Betrieb“, appellierte Axel Hofmann.

Guter Artikel der Arbeitgeberverbände Ruhr/Westfahlen, auch wenn das Thema der zunehmenden psychischen Belastung vorwiegend mit dem bei Arbeitgebern häufig angeführten Argument der heute besseren Erkennbarkeit und der Entabuisierung psychischer Erkrankungen bedient wird. Fachleuten beobachteten aber durchaus turbulente Veränderungen in der Arbeitswelt. Dazu gehört auch die im Jahr 1996 von Andreas Zielcke unter dem Titel “Der neue Doppelgänger” beschriebene Wandlung des Arbeitnehmers zum Unternehmer.

Es ist schwer, zu bestimmen, wann “das Maß voll” ist. Genau darum gibt es betriebsnahe Lösungen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam entscheiden, wann eine psychische Belastung eine als Fehlbelastung einzustufen ist.

Zur “Ermutigung” des Betreibsrates durch den Arbeitgeber: Da muss wohl noch etwas klargestellt werden, denn das läuft in der Wirklichkeit anders herum: Beim Einbezug der psychischen Belastung in den Arbeitsschutz sind oft die Betriebsräte die Impulsgeber, nicht die Arbeitgeber.