Kategorie 'ASMK'

Behördliche Systemkontrolle

Donnerstag, 2. Mai 2013 - 10:50

Die Leitlinien zur behördlichen Kontrolle von Arbeitsschutzmanagementsystemen (AMS) sind auch betriebsintern anwendbar:

Siehe auch: Schlagwort “Systemkontrolle”

Und täglich grüßt der Säbelzahntiger

Sonntag, 13. Januar 2013 - 11:28

http://www.welt.de/print/wams/nrw/article112730656/Wenn-die-Arbeit-zermuerbt.html

Welt am Sonntag 13.01.13

Wenn die Arbeit zermürbt

Rot-Grün sagt krank machendem Stress im Beruf den Kampf an. Experten zweifeln, ob das per Gesetz möglich ist Von Till-R. Stoldt

Anders als sein Vorfahr muss sich der Mensch heute zwar nicht mehr mit Säbelzahnkatzen herumschlagen, wohl aber mit Termindruck, Dauererreichbarkeit oder Überforderungsanfällen. Und darauf reagieren wir wie der Frühmensch beim Anblick einer Raubkatze: mit Stress. Nur baut der Arbeitnehmer unserer Tage diesen nicht mehr umgehend körperlich ab. Daher “richten sich die Stressreaktionen schließlich gegen den eigenen Körper – mit zum Teil schwerwiegenden gesundheitlichen Konsequenzen”, wie Experten der Techniker Krankenkasse jüngst warnten.

Da haben wir ihn wieder, den Säbezahntiger. Die Katze springt durch fast jeden Vortrag zu Stress, Burnout usw. Und dann wird auf fehlenden Stressabbau hingewiesen. Wie aber steht es um den Stressaufbau? Statt der gelegentlichen Abwehr von Säbezahntigerangriffen fahren wir jetzt in einem vom Hochfrequenzhandel begleiteten Dauerlastbetrieb. Die Kosten turbulenter Veränderungen werden jetzt spürbarer. Dagegen soll sich eine Norm wenden, die heute derzeit unter dem Begriff “Anti-Stress-Verordnung” diskutiert wird.

Der Artikel in Welt am Sonntag (Springer Verlag) ist zeitlich gut plaziert. Die Meldung zur Initiative der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister (ASMK) der Länder liegt noch nicht lange zurück und am 29. Januar gibt es die Auftaktveranstaltung zur Deutschen Gemeinsamen Arbeitsschutzinitiative (GDA) haben.

Die Welt am Sonntag lässt die Minister der ASMK Hoffnungen pflegen, die sie gar nicht haben.

Kann man diese Urgewalt per Gesetz einhegen? Darauf hoffen die Arbeitsminister von NRW, Hamburg, Bremenund Brandenburg. …

Hier ist der Trick, einen Vorschlag zu verzerren, um ihn dann angreifen zu können. Damit es klar ist, die Minister wollen keine Urgewalten einhegen, sondern die geplante Bundesratsinitiative soll zu einem den heutigen Paradigmen gerecht werdenden Umgang mit ziemlich veränderten und vergleichsweise neuen Gewalten führen.

[Nelson Taapken, Personalexperte der Wirtschaftsprüfer von Ernst &Young] zufolge muss man die psychische Belastung am Arbeitsplatz zwar ernster nehmen als bisher. Stress per Gesetz bekämpfen zu wollen, sei aber “so aussichtslos wie schädlich. Was soll zum Beispiel mit den Millionen kleinen und mittleren Selbstständigen im Land passieren?”, fragt der Personalexperte. Solle man denen “Pflichtfreizeit vorschreiben, in der sie nicht mehr mailen und telefonieren dürfen? Das würde viele Selbstständige in ernste Nöte stürzen – abgesehen davon, dass sich dies kaum kontrollieren lassen dürfte”.

Taapken probiert hier den gleichen rhetorischen Trick. Was für einen Experten hat sich die Welt am Sonntag ausgesucht? Taapken ist hier Experte insbesondere für seine eigenen Interessen in einer Arbeitgeberfunktion, in der sich nach meiner Erfahrung die Begeisterung für Schutzgesetze ohnehin in Grenzen hält. Gerade in Unternehmen wie seinem ist die Beobachtung der Qualität des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz dieser Firmen sicherlich eine interessante Aufgabe für die Gewerbeaufsicht.

… Laut VDBW-Präsident Panter lässt sich eine psychische Überlastung oft verhindern, indem man seine Stressbewältigungskompetenz steigert. Man müsse nicht gleich die berufliche Flexibilität zurückfahren. Darauf setzen auch die Krankenkassen, die seit Jahren Angebote zu diesem Zweck ausbauen – von autogenem Training über positives Denken bis zu Kursen zur “erfolgreichen Bewältigung täglicher Belastungen”. Aber auch hier heißt es aus dem NRW-Arbeitsministerium, die verstärkte Nutzung solcher Kurse gehöre ja zu den Zielen der Gesetzesinitiative. Und wenn die Angebote vermehrt genutzt würden, werde sich ein gewisses Maß an Arbeitsflexibilisierung vielleicht als tolerabel erweisen. …

“Positives Denken” wird auch gerne immer wieder empfohlen. Hier lohnt es sich besonders, erst einmal mit Denken überhaupt anzufangen. Was hier vorgeschlagen wird, ist die gute alte Verhaltensprävention. Aus gutem Grund hat im Arbeitsschutz die Verhältnisprävention Vorrang.

Ohne neue Gesetze und Verordnungen gilt jetzt schon, dass individuelle Schutzmaßnahmen nachrangig zu anderen Schutzmaßnahmen sind. Anstatt die Menschen arbeitsgerecht zu gestalten, haben die Arbeitgeber die Arbeitsplätze menschengerecht zu gestalten. Etwa 80% der Unternehmen missachten diese Pflicht schon bei der im Arbeitsschutz vorgeschriebenen Beurteilung der Arbeitsplätze. Es herrscht Anarchie – und dazu sagt der VDBW-Präsident Panter nichts?

Springers Blätter achten darauf, dass man ihnen keine Falschdarstellungen vorwerfen kann, aber filtern viel: Vom VDBW gibt es auch vernünftigere Stellungnahmen, als das, was sie Welt am Sonntag sich aus den Äußerungen des VDBW-Präsidenten herausgesucht hat: http://blog.psybel.de/position-von-betriebsaerzten-und-gewerkschaft/

Zunahme psychischer Erkrankungen nur wegen besserer Diagnosemöglichkeiten?

Donnerstag, 10. Januar 2013 - 07:04

2013-01-04, Interview mit Norbert Breutmann
http://www.ksta.de/politik/interview–bereitschaft-zur-therapie-waechst-,15187246,21391898.html

… Wissenschaftliche Studien und die OECD sagen, dass psychische Erkrankungen über die letzten Jahrzehnte im wesentlichen konstant geblieben sind. Wir haben allerdings eine viel höhere Bereitschaft, sich behandeln zu lassen. Früher war die Dunkelziffer deutlich höher. Inzwischen ist die Bereitschaft spürbar gewachsen, zum Arzt zu gehen. Bei Hausärzten haben wir inzwischen eine größere Sensibilität gegenüber diesem Thema. Insofern wird auch mehr diagnostiziert und mehr krankgeschrieben aus psychischen Gründen.

Norbert Breutmann vertritt hier eine Position der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Er ist dort für Arbeitswissenschaft und Soziale Sicherung zuständig. Das derzeitige Argumentationsmuster der BDA ist, dass arbeitsbedingte psychische Erkrankungen nicht wirklich zunähmen, sondern dass die beobachtete Zunahme eine Folge besserer Diagnosemöglichkeiten und der Enttabuisierung des Themas sei.

Diese Position ist richtig. Aber der Umgang damit ist häufig falsch. Erstens ist es natürlich immer ein Problem, mit “Dunkelziffern” zu argumentieren. Sie bleiben ja auch für die OECD dunkel. Zweitens: So, wie Arbeitgeber und die für sie arbeitenden Arbeitswissenschaftler diese Position häufig vortragen, wird der Eindruck erweckt, dass sie die einzige Erklärung für die Zunahme psychischer Erkrankungen sei. Um das ein bisschen zurechtzurücken, möchten Sie sich vielleicht auch mit anderen Sichtweisen vertraut machen:

  • kürzer: http://www.taz.de/!107690/
    taz: Herr Siegrist, gibt es wirklich mehr Stress im Beruf?

    Johannes Siegrist: Ja, in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren haben sich in vielen Branchen die täglichen Anforderungen verschärft. Das zeigen Längsschnittstudien, unter anderem aus Schweden.

  • länger: http://blog.psybel.de/stichwort/rolf-haubl/
  •  
    Breutmann spricht sich (in Übereinstimmung mit Arbeitgeberpositionen) auch gegen eine konkretere Gesetzgebung aus, wie sie von der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder (ASMK) gefordert wird. Die Arbeitgeber setzen auf die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA). Den Hinweis auf ein Vollzugsdefizit bei der Gewerbeaufsicht habe ich allerdings bisher von der Arbeitgeberseite so deutlich noch nicht gehört:

    … Mit dem neuen Jahr startet eine Kampagne, um die Handlungsunsicherheit [im Bereich der psychischen Belastungen im Arbeitsschutz] zu beseitigen. Ende Januar gibt es dazu eine Auftaktveranstaltung mit der Bundesministerin.

    Dahinter steckt die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie, in der Bund, Länder und die Unfallversicherung zusammenarbeiten. Hier hat man sich darauf verständigt, sich 2013 dem Thema psychische Belastung im Arbeitsprozess schwerpunktmäßig zu widmen. Das ist effektiver als eine neue Verordnung. Bei der würde sich ja auch die Frage stellen, inwieweit sie überhaupt vollzogen werden kann. Wir haben ja ohnehin ein Vollzugsdefizit bei der Gewerbeaufsicht, weil die Länder, gerade auch NRW, dafür viel zu wenig Beamte haben, um Kontrollen vorzunehmen. …

    (Link nachträglich eingefügt)

    Schutzlücke beim Arbeitsschutz schließen

    Samstag, 5. Januar 2013 - 16:30

    Ende November 2012 hatte es die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) noch geschafft, sich zu einem Enwurf zu einer Art “Anti-Stress-Verordnung” zu entschließen. Ein Zitat aus dem Protokoll:

    Erschwerend kommt hinzu, dass die rechtliche Unverbindlichkeit dafür sorgt, dass im Spannungsfeld zwischen Unternehmensleitungen und staatlicher Aufsicht die Durchsetzungsfähigkeit für konkrete Forderungen an die Betriebe stark eingeschränkt ist.

     
    Vorweg gleich eine Kritik: Ähnlich wie Arbeitgeber, sprechen anscheinend auch Politiker lieber über Wohltaten für ihre Schutzbefohlenen, als diese selbst bei der Gestaltung ihres Schutzes in den Betrieben mitbestimmen zu lassen. Obwohl es hier um den Schutz von Arbeitnehmern geht und gerade im Arbeitsschutz eine zwingende Mitbestimmungspflicht herrscht, interessieren sich die “Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder” (auch der SPD) in der ASMK kaum dafür, wie die Zielgruppe ihrers Vorschriftenentwurfs in den Betrieben praktisch mitbestimmt und wie man gegen die nicht seltene Straftat der Behinderung der Mitbestimmung vorgeht. Speziell bei Thema der Defizite in den Betrieben hätte die auch Qualifizierung der Arbeitnehmervertreter angesprochen werden müssen.

    Die ASMK hat ignoriert, dass gerade die Gewerkschaften und die Betriebsräte (sowie nur vereinzelt auch die Arbeitsschutzbehörden) die aktivsten Impulsgeber beim Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz waren.

     

    http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/3705684/2012-11-29-bgv-asmk-psychische-belastungen.html

    … In der Verordnung soll als Konkretisierung des Arbeitsschutzgesetzes der Umgang mit arbeitsbedingten psychischen Belastungen verbindlich geregelt werden. Unternehmen sollen demnach künftig verpflichtend ermitteln, ob und welche Gefährdungen am Arbeitsplatz auftreten, etwa durch die Arbeitsaufgabe, -mittel, -organisation oder durch soziale Bedingungen. Die Verordnung soll Maßnahmen benennen, die eine mögliche Gesundheitsgefährdung durch psychische Belastungen verringern oder vermeiden. Ebenso sollen Risikofaktoren und Gestaltungsgrundsätze festgeschrieben werden, die in Betrieben zu berücksichtigen sind. Die Verordnung soll die Anforderungen an Betriebe dabei ebenso klar wie verbindlich beschreiben, so dass die Arbeitsschutzbehörden prüfen können, ob Unternehmen diese angemessen erfüllen. …

     

    http://www.spdfraktion.de/presse/pressemitteilungen/schutzlücke-beim-arbeitsschutz-schließen

    Pressemitteilung
    Schutzlücke beim Arbeitsschutz schließen

    Stand: 29.11.2012
    Dokument Nummer: 1346
    Arbeitsgruppen: Arbeit und Soziales
    Abgeordnete/r: Anette Kramme, Josip Juratovic
    Themen: Arbeit , Soziales

    Zum heutigen Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zu psychischen Belastungen bei der Arbeit erklären die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Anette Kramme und der zuständige Berichterstatter Josip Juratovic:

    Wir begrüßen diese Initiative ausdrücklich. Bisher ist alles mögliche im Arbeitsschutz per Verordnung geregelt – im Bereich psychische Belastungen fehlt jedoch eine Verordnung. Wir müssen diese Schutzlücke schließen und eine Anti-Stress-Verordnung schaffen. Ähnlich wie beim Lärmschutz muss es belastbare Vorgaben geben, um Angestellte besser vor Stress zu schützen. Wir fordern das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf, zügig eine solche Verordnung zu erlassen.

    Die Fehltage aufgrund von psychischen Erkrankungen haben stark zugenommen. Im vorletzten Jahr gab es insgesamt 53,5 Millionen psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeitstage – das sind 80 Prozent mehr als im Jahr 2001. Diese Zahlen sind alarmierend. Wohlfeile Ankündigungen der Ministerin von der Leyen reichen nicht. Konkrete rechtliche Schritte sind nötig.

    Die SPD setzt vor allem auf Prävention. Psychische Belastungen in der Arbeitswelt müssen so weit es geht vermieden werden. Dazu brauchen wir klare Regeln im Arbeitsschutz. Die von den Ländern geforderte Anti-Stress-Verordnung ist ein sinnvoller und gangbarer Weg. Zweitens wollen wir, dass mehr Unternehmen als bisher Gefährdungsbeurteilungen erstellen und dabei auch psychische Belastungen beachten. Drittens muss das betriebliche Gesundheitsmanagement unterstützt und gefördert werden.

     


    ASMK-Protokoll: http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2013/01/Protokoll_ASMK_2012.pdf, S. 158-168
    TOP 7.29
    Psychische Belastungen bei der Arbeit
    Antragsteller: Brandenburg, Bremen, Hamburg,
    Nordrhein-Westfalen

    Beschluss:
    Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder haben mehrheitlich beschlossen:

    Arbeitsbedingte psychische Belastungen sind zu einem zentralen Thema der gesundheits- und arbeitsschutzpolitischen Diskussion geworden. Nach den Auswertungen der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit gehört arbeitsbedingter Stress zu den wesentlichen gesundheitsgefährdenden Ursachen in der Arbeitswelt. Nach den Berechnungen der Krankenkassen werden die jährlichen Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen in Deutschland auf insgesamt über 43 Milliarden Euro geschätzt, die sich aus etwa 19 Milliarden Euro direkter und 25 Milliarden Euro indirekter Kosten zusammensetzen. Bei den direkten Kosten nehmen die psychischen Störungen mit ungefähr drei Milliarden Euro nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen den zweiten Rang ein. Im Hinblick auf die indirekten Kosten lösen die psychischen Störungen mit gut 3 Milliarden Euro die zweithöchsten Kosten aus, bezüglich der indirekten Kosten durch Frühberentung sogar die höchsten. Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder:

    1. stellen fest, dass ein dringender Handlungsbedarf für den Arbeitsschutz besteht, die negativen Auswirkungen arbeitsbedingter psychischer Belastungen zu vermeiden oder zu verringern. Die gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen, als auch die enormen betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten erfordern Anstrengungen aller Akteure.

    2. halten es für erforderlich, dass die Aufsichtsbehörden hinsichtlich arbeitsbedingter psychischer Belastungen mit den in diesem Themenfeld agierenden Akteuren, Netzwerken und Sozialpartnern kooperieren müssen, insbesondere mit den Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern.

    3. sprechen sich dafür aus, dass die staatlichen Arbeitsschutzbehörden ihre Aktivitäten im Handlungsfeld „arbeitsbedingte psychische Belastungen“ auf der Grundlage der vorhandenen Konzeptionen und Handlungshilfen weiter intensivieren.

    4. sind der Auffassung, dass für arbeitsbedingte psychische Belastungen die rechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich der Grundpflichten der Arbeitgeber, der Anforderungen an die entsprechende Gefährdungsbeurteilung und zur Umsetzung präventiver Maßnahmen nicht hinreichend konkret beschrieben sind. Sie bitten die Bundesregierung, die notwendigen Rechtsgrundlagen für eine angemessene Überwachung und Beratung der Betriebe zu arbeitsbedingten psychischen Belastungen zu schaffen und die Länder an der Erarbeitung zu beteiligen.

    Protokollnotiz Baden-Württemberg:
    Eine zu erlassende Verordnung sollte gegebenenfalls durch ausreichend bestimmte Rechtsbegriffe die Arbeit der Arbeitsschutzbehörden und das Engagement der Unternehmen erleichtern und die Kooperationsbereitschaft der Arbeitgeber und der anderen Akteure nicht beeinträchtigen. In diesem Sinne und mit dem Ziel der Verschlankung sollte der vorliegende Arbeitsentwurf mit Stand vom 21.09.2012 noch einmal kritisch überprüft und überarbeitet werden.

    Anlage zu TOP 7.29 der 89. ASMK
    Eckpunktepapier:
    Psychische Gesundheit bei der Arbeit schützen und fördern
    1 Psychische Belastungen in der Arbeitswelt – Eine Herausforderung für Betriebe und Aufsichtsbehörden …
    2 Europäischer Rahmen …
    3 Handlungskonzepte der Länder …
    4 Umsetzungsdefizite …
        Defizite in Betrieben …
        Defizite im Aufsichtshandeln …

        Gesetzlicher Rechtsrahmen fehlt …
    5 Umsetzungsvorschläge …
        Betriebliche Umsetzung stärken …
        Mehr Verbindlichkeit durch Rechtsoffensive schaffen …
        Mehr Wirksamkeit des Aufsichtshandelns erhöhen …
        Ziel der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie Nachdruck verleihen …
    6 Grundzüge einer „Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch psychische Belastungen bei der Arbeit“ …

     


    Links:

    Psychische Belastungen bei 80% der Betriebe nicht beurteilt

    Samstag, 21. Juli 2012 - 15:30

    2018-06-08: Bundestagsdrucksache 19/01011


    Zur Einleitung (2012-07-21): Es gibt mindestens ein größeres Unternehmen, dass vor 2013 der Öffentlichkeit die Unwahrheit mitgeteilt hat. Er berichtete offiziell, dass sein Arbeitsschutz vollständig sei, obwohl ihm auch danach Prozesse zur Beurteilung psychischer Belastungen nachweislich fehlten. In der untenstehenden Statistik stehen die Großunternehmen besser da, als kleinere Unternehmen. Das mag einfach daren liegen, dass die Großunternehmen die Brisanz von Aussagen zum Einbezug psychischer Belastungen in ihrern Arbeitsschutz besser verstanden hatten und darum aus rechtlichen Gründen falsche Angaben machten, also lügen. Mangels Qualifikation konnten die Gewerbeaufsichten das nicht überprüfen. Ich vermute daher, dass im Jahr 2012 psychische Belastungen in noch mehr als 80% der Betriebe nicht beurteilt wurden.

    Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
    Drucksache 17/10026, 2012-07-03
    http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/102/1710229.pdf
    (oder http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2012/07/1710229vorab.pdf)

    Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz


    9. Wie häufig stellte sich nach Kenntnis der Bundesregierung bei Betriebsbesichtigungen pro Jahr seit 2005 bis heute absolut und prozentual zu allen geprüften Betrieben heraus, dass die geprüften Betriebe keine Gefährdungsbeurteilungen bzw. Gefährdungsbeurteilungen ohne die Beachtung von psychischen Gefährdungen durchgeführt haben (bitte nach Gewerbeaufsicht in den Ländern, Unfallversicherung und Berufsgenossenschaften differenzieren)?

    Diese Daten werden in den Jahresberichten der staatlichen Arbeitsschutzbehörden der Länder bisher statistisch nicht erfasst, und auch die Unfallversicherungsträger verfügen nicht über verlässliche Aussagen.

    Im Rahmen der Dachevaluation der 1. Periode zur Umsetzung der GDA wurden deutschlandweit über alle Wirtschafts- und Größenklassen insgesamt 6500 Arbeitgeber zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen befragt. Aus den Antworten ergibt sich, dass 52 Prozent der befragten Arbeitgeber für ihren Betrieb angaben, eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt zu haben. Je kleiner ein Betrieb desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gefährdungsbeurteilung erstellt wurde. Ähnliche Ergebnisse ergab eine im Jahr 2009 von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführte repräsentative Befragung von Inhaberinnen und Inhabern bzw. Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern in Klein- und Kleinstunternehmen (BAuA: „Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Inhaber/innen/Geschäftsführer/innen in Klein- und Kleinstunternehmen“, Dortmund/Berlin/Dresden 2011).


    [Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen nach Größenklasse
    („Werden an den Arbeitsplätzen in Ihrem Betrieb Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt?“)
    Quelle: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD;
    Drucksache 17/10026, 2012-07-03, “Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz”.
    http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/102/1710229.pdf
    Umfrage: Presseinformation "Arbeitsschutz auf dem Prüfstand: Qualitätsbarometer beschlossen"
    (http://www.gda-portal.de/de/pdf/PM-Evaluation.pdf?__blob=publicationFile&v=2, 2011-05-11).]

    [...] [Es] wird deutlich, dass der Schwerpunkt bei den Besichtigungen im ‘Technischen Arbeitsschutz’ liegt. Das Sachgebiet ‘Arbeitsplatz, Arbeitsstätte, Ergonomie’ wird bei jeder zweiten Besichtigung thematisiert, das Sachgebiet ‘Arbeitszeit’ bei jeder zehnten Besichtigung. Das Sachgebiet „psychische Belastung“ wird hingegen im Durchschnitt bei jeder neunzigsten Besichtigung behandelt. [...]

    [...] In der o. g. repräsentativen Befragung wurde nach der Einbeziehung der „psychischen“ Belastungsfaktoren „soziale Beziehungen“ und „Arbeitszeitgestaltung“ in die Gefährdungsbeurteilung gefragt. 44 Prozent bzw. 48 Prozent der befragten Betriebe, die eine Gefährdungsbeurteilung durchführen, gaben an, dass sie diese Belastungsfaktoren einbezogen haben. In der erwähnten Untersuchung wurde auch direkt nach der Einbeziehung psychischer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung gefragt. Bezogen auf die Grundgesamtheit der repräsentativen Stichprobe von 6500 Betrieben führen insgesamt 20 Prozent der befragten Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung unter Einbeziehung von psychischen Belastungen durch. Die entsprechende Verteilung auf die Betriebsgrößenklassen zeigt die oben angeführte Abbildung.
    [...]

    In der Umfrage wurden Unternehmen (Geschäftsführungen beziehungsweise Arbeitsschutzfachleute) in den Betrieben befragt. Von großen Betrieben, die vor allem auf die Rechtssicherheit des Top-Managements achten, könnten auch Fehlangaben gekommen sein, damit keine Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen dokumentiert werden oder Zertifikate zurückgegeben werden müssen. Mir ist ein Betrieb bekannt, der hier bei Angaben zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz schlicht lügt.

    Die Betriebsräte dieser Unternehmen könnten den den Gewerbeaufsichten gegebenenfalls nähere Angaben machen. Diese Schutzbehörden bleiben aber weiterhin unkritisch und fragen in den Betrieben nicht aktiv nach Belegen für behauptete Arbeitsschutzmaßnahmen im Bereich der psychischen Belastungen. Denn bei genauerer Kontrollen müssten Aufsichtspersonen feststellen, dass sie in der Vergangenheit den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz der Betriebe in der Vergangenheit nicht gründlich und kompetent genug kontrolliert hatten. Das gemeinsame Versagen bindet Geprüfte und Prüfer darum enger aneinander, die zu schützenden Mitarbeiter haben das Nachsehen.

    Es gibt Betriebe, die nach OHSAS 18001 zertifiziert sind, aber das Thema der psychischen Belastungen nicht ausreichend in ihren Arbeitsschutz integriert haben. Von Zertifikaten für Arbeitsschutzsysteme versprechen sich die Prüfer der Gewerbeaufsicht leider mehr, als diese Zertifikate wirklich bieten. Auch kann es vorkommen, dass Arbeitsschutzfachleute psychische Belastungen nicht ernsthaft beurteilen, den Begriff aber in der Gefährdungsbeurteilung zur Beruhigung überforderter Aufsichtsbeamter der Form halber ohne irgendwelche Aussagen zur Qualität des Arbeitsschutzes in diesem Bereich erwähnen. Sie können dann sagen, sie dass psychische Belastungen thematisiert worden seien. Und schon wieder gefährdet diese Scheinsicherheit die Arbeitnehmer.

    Wegen dieser Situation hätten auch die Betriebsräte und die Personalräte in der bundesweite Umfrage befragt werden müssen, und zwar auch kritisch, denn viele Arbeitnehmervertretungen verstehen das Thema der psychischen Belastungen immer noch nicht gut genug.

    Aber das Ergebnis ist so oder so eine Ohrfeige für die Arbeitsschutzpolitik aller seit 1996 dafür Verantwortlichen, nicht nur aus der Sicht des Arbeitsschutzes, sondern auch aus rechtsstaatlicher Sicht. Wir haben hier einen massenhaften Rechtsbruch, der sogar heute noch von den Behörden toleriert wird. Ich verlange ja nicht gleich Strafen, sondern wenigstens die Kontrolle leicht prüfbarer Dinge. Beispielsweise werden psychische Belastungen in vielen Unternehmen überhaupt nicht in die Arbeitsschutzunterweisung einbezogen. Unterlagen und Belege fehlen. Aber die Gewerbeaufsicht protokolliert nicht einmal solche eindeutigen Mängel.

    Die Hoffnung auf unternehmerische Eigenverantwortung rechtfertigte den netten Versuch laxer Kontrolle vielleicht, aber dieser Versuch hätte früher beendet werden müssen: Mindestens die Hälfte der Großunternehmen missachtete über viele Jahre hinweg die Pflicht, die Gefährdungskategorie “psychische Belastungen” in den Arbeitsschutz zu integrieren. Eigentlich ist das Anarchie, aber sie erstaunt uns nicht mehr. Einerseits leben wir in einem Land, in dem Sozialhilfeempfänger penibel kontrolliert werden, damit sie keinen Cent zuviel bekommen. Andererseits trauen wir uns nicht, Unternehmer zu überwachen, deren Mehrheit auch heute noch die Gesundheit ihrer Mitarbeiter bis hin zur Körperverletzung auf das Spiel setzt. Angesichts der Geschichte kann heute die nachhaltige Respektlosigkeit dieser Unternehmer gegenüber den Arbeitsschutzbestimmungen eigentlich kein Versehen mehr sein.

    -> Alle Beiträge zu dieser Kleinen Anfrage im Bundestag

     
    Siehe auch:

     


    2013-01-05

    Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK):
    http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2013/01/Protokoll_ASMK_2012.pdf

    Ergebnisprotokoll der 89. Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder am 28./29. November 2012 in Hannover

    Umsetzungsdefizite

    Dem Bedeutungswandel im Spektrum der Arbeitsbelastungen muss in der Gesetzgebung und in der betrieblichen Praxis Rechnung getragen werden: Ein Arbeitsschutz, der psychische Belastungsfaktoren nicht oder nicht angemessen in seinen Fokus nimmt, wird in der modernen Arbeitswelt das Ziel, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren und Unfälle zu vermeiden und Arbeit menschengerecht zu gestalten, nicht erfüllen.

    Trotz richtungsweisender Aktivitäten der Länder und anderer Arbeitsschutzakteure, trotz der Anstrengungen vieler Betriebe im Handlungsfeld psychischer Belastungen: Es mangelt an einer stärkeren Verbindlichkeit für die Betriebe und an mehr Handlungssicherheit für die Aufsichtsbehörden. Darüber hinaus muss auch die Kompetenz der verantwortlichen Akteure gefördert werden.

    Defizite in Betrieben

    Psychische Belastungen spielen keine oder nur eine untergeordnete Rolle in der Gefährdungsbeurteilung. So ergab eine Betriebsrätebefragung, dass in 58 Prozent der Betriebe mit mehr als neunzehn Beschäftigten eine Gefährdungsbeurteilung ganz oder teilweise durchgeführt wurde, darunter aber lediglich zwanzig Prozent auch psychische Belastungen ermittelten (WSI 2008/2009). Eine repräsentative Befragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zeigte für Klein- und Kleinstbetriebe (< 50 Beschäftigte) ein noch schlechteres Ergebnis: Nur 38 Prozent dieser Betriebe hatte eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, nur sechs Prozent ermittelten davon auch psychische Belastungen. (Sczesny, C., Keindorf, S., Droß, P. 2011, S.45ff.). Die jüngsten Ergebnisse der Dachevaluation der GDA bestätigen die unzureichende Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen. Von den befragten 6.500 Arbeitgebern antwortete nur jeder Zweite, dass in seinem Betrieb eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde. Von diesen Betrieben berücksichtigte nur jeder fünfte Betrieb psychische Belastungen (soziale Beziehungen, Arbeitszeitgestaltung). Je kleiner der Betrieb, desto seltener lag eine Gefährdungsbeurteilung vor und desto geringer war der Anteil von Betrieben, die psychische Belastungsfaktoren ermitteln (BMA 2012, S. 10f.). Über die anschließende Umsetzung von Maßnahmen gibt es bisher keine Erkenntnisse. Die Gründe für die unzureichende Beurteilung von Arbeitsbedingungen und vermutlich noch geringere Umsetzung geeigneter Maßnahmen sind vielfältig. Es fehlt das Verständnis für psychische Belastungen, die Anforderungen sind unklar, es herrscht Unsicherheit über anzuwendende Instrumente und es mangelt an der Kompetenz der zuständigen Akteure.

    Die Begriffsdefinitionen, Verpflichtungen und Grundsätze im Arbeitsschutzgesetz (z.B. §§ 2, 3, 4, 5 ArbSchutzG) reichen offenbar nicht, um psychische Belastungen angemessen zu berücksichtigen und Arbeitsbedingungen menschengerecht zu gestalten. Auch andere geltende gesetzliche Regelungswerke werden nicht in erforderlichem Maße umgesetzt, obwohl die Beurteilung psychischer Belastungsfaktoren mittelbar oder unmittelbar enthalten ist (Arbeitssicherheitsgesetz [gemeint ist wohl "Arbeitsschutzgesetz"], Bildschirmarbeitsverordnung, etc.).

    Defizite im Aufsichtshandeln

    Wie in den Betrieben werden psychische Belastungen auch von den Gewerbeaufsichten in der Überwachungspraxis nicht angemessen berücksichtigt (Beck D., Richter G., Lenhardt U. 2012). Die Gründe dafür unterscheiden sich nicht wesentlich von denen in den Unternehmen. Es herrscht auch bei den Aufsichtsbeamtinnen und –beamten noch eine große Unsicherheit bei diesem Thema und die Beurteilungsmaßstäbe für die Angemessenheit von Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen sind unklar. Trotz bestehender Konzepte, existierender Handlungshilfen und Qualifizierungsoffensiven der Arbeitsschutzbehörden müssen sich die vorwiegend technisch ausgebildeten staatlichen Aufsichtspersonen den Zugang zu den „modernen“ Belastungen im Aufsichtshandeln noch besser erschließen. Die Veränderungen im Anforderungsprofil des Aufsichtspersonals durch Neueinstellungen oder Nachbesetzungen von Angehörigen anderer nicht technisch ausgebildeter Berufsgruppen, vollzieht sich nur langsam. Erschwerend kommt hinzu, dass die rechtliche Unverbindlichkeit dafür sorgt, dass im Spannungsfeld zwischen Unternehmensleitungen und staatlicher Aufsicht die Durchsetzungsfähigkeit für konkrete Forderungen an die Betriebe stark eingeschränkt ist.

    (Link nachträglich eingefügt)

    Zu guter Letzte: Es gibt Betriebe, die nach OHSAS 18001 zertifiziert worden sind, obwohl ihnen mitbestimmte Prozesse zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz fehlen. Manche Zertifizierungen durch externe Auditoren (auf die sich die Gewerbeaufsichten leider formal verlassen) sind also nur eine Farce.