BAuA: Verhältnisprävention geht vor Verhaltensprävention

Mittwoch, 5. Oktober 2016 - 06:29

http://www.baua.de/de/Publikationen/BAuA-AKTUELL/2012-2/pdf/ba2-12-s06-07.pdf?__blob=publicationFile&v=2

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Die Verhaltensprävention setzt bei der Vermeidung und Minimierung gesundheitsriskanter Verhaltensweisen sowie der Förderung von Gesundheitskompetenz und gesundheitsgerechtem Verhalten am Individuum an: Informations- und Aufklärungsmaßnahmen sowie Maßnahmen zur Vermittlung von Bewältigungstechniken, wie beispielsweise Anti-Stress-Trainings, zählen dazu. Solche auf das Individuum bezogene Maßnahmen können jedoch nur dann nachhaltig Erfolg haben, wenn sich an der arbeitsbedingten Belastung, wie Führungsstil, Unternehmenskultur oder Arbeitsorganisation, also an den Verhältnissen, ebenfalls etwas ändert. Und ohnehin gilt: Verhältnisprävention geht vor Verhaltensprävention!

Die Verhältnisprävention zielt darauf ab, Gesundheitsrisiken, die sich aus der Arbeitsumwelt ergeben – wie zum Beispiel mangelhafte Gestaltung von Arbeitsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitszeit – zu kontrollieren, zu verringern und idealerweise zu beseitigen. Sie setzt bei den Arbeitsbedingungen an. In der betrieblichen Umsetzung können beispielsweise Maßnahmen auf den Weg gebracht werden, mit denen sich häufige Arbeitsunterbrechungen vermeiden lassen. Hier können störungsfreie Zeiten vereinbart werden. Von zunehmender Bedeutung sind Maßnahmen im Bereich der Arbeitszeit- und Schichtplangestaltung. Im Bereich der Arbeitsmittel kann das eine software-ergonomische Überprüfung und gegebenenfalls Nutzer- und Aufgabenanpassung bedeuten. Und auch das Beseitigen oder Reduzieren von störenden Geräuschen wie das des PC-Lüfters oder des Telefonklingelns kann zur Verminderung von psychischer Belastung beitragen.

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Nach meiner Erfahrung wird der größte Teil psychischer Fehlbelastungen durch unrealistische Aufgabenbeschreibungen verursacht, leider auch wissentlich. Hier versagt die Verhältnisprävention. Es geht mir dabei nicht um Aufgabenbeschreibungen im Detail, sondern um oft völlig fehlende Bemühungen, bei der Planung von Prozessen und Projekten überhaupt zu dokumentieren, wie die Arbeitsbelastung der von diesen Prozessen und Projekten betroffenen Akteure und Kunden eingeschätzt(!) wird. Wenn bei diesen Planungen ordentlich vorgegangen würde, dann könnte der Aufwand für Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen erheblich verringert werden.

Leider zieht das Argument nicht so richtig, weil dank überforderter Gewerbeaufsichten sich viele Unternehmen immer noch um eine ehrliche Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen herumdrücken können. Außerdem lassen sich behördliche Prüfer (auch nach einer einwöchigen Schulung zu psychischen Belastungen) immer noch zu leicht von fürsorglich aussehenden verhaltenspräventiven Maßnahmen beeindrucken.

Es gibt zu viele Arbeitsschützer, die ein “Die Bildschirmarbeitsverordnung wird eingehalten” schon als Vorgabetext in Gefährdungsbeurteilungen stehen haben, ohne sich z.B. um die wirklich in ihrem Betrieb praktizierte Arbeit in der IT und in den Büros verhältnispräventiv zu kümmern. Sie meinen, es reiche aus, gute Software einzukaufen, kümmern sich aber nicht um das Zusammenwirken verschiedener Applikationen untereinander und um die Umgebungsbedingungen, in denen die Mitarbeiter arbeiten. Solche Arbeitsschützer betreiben einen Checklisten-Arbeitsschutz ohne genau hinzusehen und hinzuhören. Sie kümmern sich damit vorrangig um die Rechtssicherheit des Arbeitgebers und erst danach um den verhältnispräventiven Gesundheitsschutz für die Mitarbeiter.

Dem entsprechend gibt es nur wenige Arbeitsschützer, die die Mitarbeiter in ihren Betrieben über die Pflichten in Kenntnis setzen, die sich für die Verhältnisprävention aus dem Arbeitsschutzgesetz und der Bildschirmarbeitsverordnung ergeben. Anstelle sich wenigstens um eine ehrliche Abschätzung(!) von Arbeitsbelastungen zu bemühen, veranstalten zu viele Unternehmen lieber verhaltenspräventive Wohlfühlaktionen bis hin zum Einsatz von Bachblüten. Das sieht gut aus und mag sogar gut gemeint sein, ist aber nur ein unprofessionelles Herumkurieren an auch geschäftlich unnötigen Fehlbelastungen.


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