Schlagwort 'Aufsichtsqualifizierung'

Feige und Frech

Mittwoch, 22. Februar 2017 - 11:48

Ich ärgere mich immer noch. Da sind die Berufsgenossenschaften und die Gewerbeaufsicht zu feige, Unternehmen bestrafen zu lassen, die über viele Jahre hinweg psychische Belastungen entgegen den Vorschriften nicht in die Gefährdungsbeurteilung einbeziehen, und nun erdreistet sich eine Mitarbeiterin der Berufsgenossenschaft, Dienstleister mies zu machen, die auf strafbewehrte gesetzliche Vorschriften hinweisen. Frecher geht’s kaum noch.

Den Schwanz eingezogen hat auch die Gewerbeaufsicht in Bayern. Sie traut sich heute nicht einmal mehr zu schreiben, dass sie mit Betrieben Zielvereinbarungen trifft, wenn die sich über das Recht erhebenden Unternehmer psychische Belastungen nicht in den Arbeitsschutz einbeziehen. (Siehe auch Modul 9 ab Seite 27 in der LV 31 aus dem Jahr 2003! Hat sich überhaupt irgendeine Gewerbeaufsicht daran gehalten?)

Mir als Mitarbeiter und ehemaligem Betriebsratsmitglied haben externe private Dienstleister mehr geholfen, als die Berufsgenossenschaften und die Gewerbeaufsicht. Und bei der Überwachung der Selbstkontrolle von Arbeitsschutzmanagementsystemen gibt es bei der DAkkS (Deutsche Akkreditierungsstelle) durchaus noch Verbesserungspotential.

An Arbeitnehmervertreter: Ihr habt das Recht, Dienstleister hinzuzuziehen. Alleine der Prozess des Hinzuziehens von externen Sachverständigen kann schon viel Klarheit schaffen.
(1) Schützt Eure Dienstleister. Es sollte Euch zum Beispiel auffallen, wenn Euer Arbeitgeber den Datenschutz und die Datensicherheit bei Euren Dienstleistern (die auf strafbare Unterlassungen im Arbeitsschutz hinweisen) strenger prüft, als bei anderen Dienstleistern.
(2) Verlasst euch nicht auf eine amtliche Aufsicht, die für Sanktionen nach kritischen Audits zu feige ist und dann auch noch frech wird indem sie sie Dienstleister diffamiert, die den Job machen, den die Berufsgenossenschaften und die Gewerbeaufsichten schon vor vielen Jahren hätten machen müssen.

Fehlende Begeisterung für OHSAS 18001 bei DNV-GL?

Dienstag, 9. August 2016 - 07:00

DNV-GL sendet mir Werbung zu Seminaren über ISO 9001, DIN EN 9100, ISO 14001, ISO 22000, ISO 27001 und ISO 50001. Größere Schwierigkeiten scheinen die Betriebe in Deutschland jedoch mit OHSAS 18001 zu haben. Das liegt vermutlich nicht nur daran, dass der heftig umstrittene Standard ISO 45001 vielleicht 2017 der Nachfolger dieses Standards für Arbeitsschutzmanagement werden soll. (Mit ISO 45001:2016 wird das nichts mehr.)

Ich wünsche mir von der Zertifizierungsbranche Trainings und kritischere Audits insbesondere im Arbeitsschutz. Hier sind die Arbeitnehmer die “Stakeholder”, was meiner Ansicht nach bei Audits von Arbeitsschutzmanagementsystemen für die Arbeitnehmervertreter immer noch nicht ausreichend spürbar wird. Auch sollte DNV-GL Arbeitnehmervertretern Seminare anbieten, die sie zur Durchführung interner (ISO 19011) Audits von Arbeitsschutzmanagementsystemen befähigen. Auch die Gewerkschaften vernachlässigen das Thema der Standards für Arbeitsschutzmanagementsysteme. Das ist schlecht, denn der Arbeitsschutz in Deutschland verträgt durchaus noch Verbesserungen bei der disziplinierten Umsetzung sowohl freiwillig ausgewählter wie auch gesetzlich vorgeschriebener Regeln.

Vielleicht sollte doch einmal die gesamte Struktur nicht nur der der behördlichen Aufsicht, sondern auch des privatisierten Audit(un)wesens unter die Lupe genommen werden. Denn vor welchen Unannehmlichkeiten müssen sich Zertifizierungsauditoren (und die Deutsche Akkreditierungsstelle, also die DAkkS) mehr fürchten: vor unzufriedenen Arbeitnehmern oder vor Unternehmen, die sich bei der Auswahl von Zertifizierern vermutlich nicht für den strengsten Auditor entscheiden werden? Die Arbeitnehmer sind zwar die “Stakeholder”, aber wirklich respektiert werden sie weder von der DAkkS, noch von den Zertifizierungsauditoren. In Deutschland ist das verständlich, denn die behördlichen und privaten Prüfer haben ja auch keinen überzeugenden Grund, solch einen Respekt zu entwickeln. Dafür tragen auch die Gewerkschaften eine Verantwortung.

2009: Beschränkte staatliche Aufsicht

Samstag, 9. April 2016 - 14:34

LV 52 (2009) Integration psychischer Belastungen in die Beratungs- und Überwachungspraxis der Arbeitsschutzbehörden der Länder:

[...] trotz vielfältiger Aktivitäten ist es auch für die Aufsichtsbeamtinnen und –beamten der Arbeitsschutzbehörden noch nicht selbstverständlich, bei der Bewertung betrieblicher Gefährdungsbeurteilungen auch psychische Faktoren zu berücksichtigen. Diese werden nicht selten als „Extra“ betrachtet, auf die eingegangen werden kann, wenn alle anderen Arbeitsschutzaspekte erledigt wurden. Eine solche Prioritätensetzung erfolgt oft mit dem Hinweis, dass gezieltes Aufsichtshandeln zur Reduktion psychischer Belastungen nur sehr eingeschränkt möglich sei, da der Rückgriff auf Normen und Sanktionen schwierig ist. Demzufolge beschränkt sich die staatliche Aufsicht in der Regel auf reines Beratungshandeln.

Diese Sichtweise geht am zentralen Ziel des Arbeitsschutzgesetzes vorbei, das eine umfassende Prävention von gesundheitlichen Risiken einfordert. Hier müssen staatliche Arbeitsschutzbehörden den Erfordernissen moderner Arbeitswelten nachkommen und ihrer institutionellen Schutzfunktion gerecht werden. Der Fokus des Aufsichtshandelns ist dabei auf Tätigkeiten zu legen, in denen in besonderem Ausmaß mit gesundheitlichen Folgen psychischer Belastungen zu rechnen ist. [...]

Siehe auch: Petition an den deutschen Bundestag, Januar 2009

Wie weit sind wir nun im Jahr 2016?
        Ein Gewerbaufsichtsbeamter besucht ein Unternehmen zur Inspektion des dortigen Arbeitsschutz. Thema ist unter Anderem ein Fall, in dem ein Mitarbeiter vom Unternehmen massiv unter Druck gesetzt wurde, nachdem er eine Fehlbelastung meldete. (Später melden noch andere Mitarbeiter ähnliche Fehlbelastungen, erst dann handelte das Unternehmen.) Obwohl der Gewerbeaufsichtsbeamte kompetent im Bereich des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz ist, wird wieder wird fast nur beraten. In seinem Bericht findet sich nicht einmal die Andeutung von Kritik am Arbeitgeber für einen der übelsten Fehler, die im Arbeitsschutz gemacht werden können.
        Statt dessen findet der Beamte Platz in seinem Bericht, die Nichtteilnahme des vom Arbeitgeber zur Besprechung eingeladenen betroffenen Mitarbeiters so darzustellen, als ob der Mitarbeiter seine Teilnahme grundlos abgelehnt habe. Der Aufsichtbeamte wusste, dass die Betriebsleitung erreicht hatte, dass ein von der Sicherheitsfachkraft zu Besprechung eingeladenes Betriebsratmitglied nicht an der Besprechung teilnahm, weswegen dann auch der Mitarbeiter der Besprechung fernblieb. Der Aufsichtsbeamte lässt das unerwähnt.
        Von der Gewerbeaufsicht gab es in ihrem Bericht keine Kritik am Arbeitgeber, nicht im kleinen Detail, aber auch nicht im Großen: In dem Betrieb gibt nämlich immer noch es kein geregeltes Verfahren zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Das steht nicht im Einklang mit dem Arbeitsschutzgesetz. Die Gewerbeaufsicht guckt zu, wie das Unternehmen seit Jahren daran arbeitet. Es gibt keine Zielvereinbarung.

Apropos Zielvereinbarung: Deutlich wurde die – sage wir mal – “höfliche” Zurückhaltung der Gewerbeaufsicht beispielsweise in Bayern. Noch im Jahr 2011 schrieb sie in ihrem Internet ganz forsch:

Psychische Fehlbelastungen lassen sich vermeiden. Die bayerische Gewerbeaufsicht überprüft die Betriebe und legt die Abhilfemöglichkeiten in einer Zielvereinbarung fest.

Aber schon das ist in Bayern anscheinend zu respektlos gegenüber den Unternehmen. Die Gewerbeaufsicht knickte ein und entfernte diesen Text aus ihrem Internetauftritt: Servus Zielvereinbarung!

Es liegt eben nicht daran, dass der Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz für die Gewerbeaufsicht ein Nebenthema sei. Im Gegenteil, es ist ein brisantes Hauptthema. Auch fehlt der Gewerbeaufsicht die Fachkompetenz nicht so, wie früher. Aber selbst mit der Materie vertraute Gewerbeaufsichtsbeamte scheuen den Konflikt mit von ihnen geprüften Unternehmen, insbesondere bei Großbetrieben. Den Aufsichtspersonen auf der unteren Ebene der Gewerbeaufsicht fehlt schlicht die für die Durchsetzung der Arbeitsschutzvorschriften erforderliche Autorität. Das ist das eigentliche Problem.

Das Aufsichtswesen in Deutschland schützt die Wirtschaft. Das ist in Ordnung, den wir alle brauchen eine gesunde Wirtschaft. Allerdings sollten die Behörden dabei auch an ihren gesetzlichen Auftrag denken und kritisch prüfen, ob die Gesundheit der Mitarbeiter ausreichend geschützt wird. Einige Aufsichtspersonen auf der unteren Ebene trauen sich von vorne herein nicht und wählen den Weg des geringsten Widerstandes: Beratung ohne Aufsicht.

Die Mutigeren unter den Aufsichtspersonen versuchen, kritisch zu prüfen. Das kann gefährlich für sie werden: Wenn sie wirklich ernsthaft prüfen, kann ihnen die Politik in den Rücken fallen. Den krassesten Fall gab es hier in Hessen. Sorgfältig arbeitende Steuerfahnder wurden von ihrem Arbeitgeber (der ihnen eigentlich Rückhalt hätte geben müssen) als psychisch krank erklärt.

Die GDA bis 2012 und Prioritäten ab 2013

Donnerstag, 4. Februar 2016 - 23:12

http://www.dguv.de/medien/landesverbaende/de/veranstaltung/tda/2013/documents/09_jansen.pdf

Die GDA bis 2012
- Erfahrungen -
Prioritäten ab 2013
Michael Jansen
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung – DGUV
Fellbach, 14. März 2013
[...] 

  • ORGA: Verbesserung der Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes
  • MSE: Verringerung von arbeitsbedingten Gesundheitsgefährdungen und Erkrankungen im Muskel-Skelett-Bereich
  • PSYCH: Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung

Der PSYCH Kernprozess für die Beratung und Aufsich begann erst im Jahr 2015. Die Qualifizierung des Aufsichtspersonals bei PSYCH begann in der GDA erst im Mitte 2013. Einen Anlauf für eine gerade mal insgesamt fünftägige Ausbildung für PSYCH für die eher technisch orientierten Aufsichtpersonen gab es in Bayern ab 2011, also etwa sechs Jahre, nachdem das BAG klarstellte, dass psychische Belastungen Gegenstand des Arbeitsschutzes sind. Bis dahin waren die Arbeitnehmer einem Arbeits- und Gesundheitsschutz ausgeliefert, der von der Gewerbeaufsicht nicht kompetent beaufsichtigt werden konnte.

Ich erkenne bei der Gewerbeaufsicht kein Interesse, zu untersuchen, welchen Schaden sie damit angerichtet hat. Mindestens müssten sie von den vielen Unternehmen, die psychische Belastungen noch nicht ausreichend in den Arbeitsschutz mit einbezogen haben, fordern, dass ihre Budgets für den Arbeitsschutz über das für DGUV2 geltende Maß hinausgehen. Die Aufholjagd erfordert ganz logisch zusätzlichen Aufwand.

Qualifizierung der Bayerischen Gewerbeaufsichtsbeamten

Mittwoch, 25. Juli 2012 - 21:06

http://www.verwaltung.bayern.de/egov-portlets/xview/Anlage/4038079/Jahresbericht der Gewerbeaufsicht des Freistaates Bayern 2010.pdf, S. 59

Qualifizierung der Bayerischen Gewerbeaufsichtsbeamten zur Thematik „arbeitsbedingte psychische Belastungen“

Arbeitsbedingte psychische Belastungen: eine Herausforderung für die Gewerbeaufsicht …

… Schwerpunktaktionen zu psychischen Belastungen hat es zwar in Bayern schon in einzelnen Branchen und Tätigkeitsfeldern gegeben (siehe www.lgl.bayern.de), sie wurden aber ausschließlich von Gewerbeärzten in Zusammenarbeit mit dem LGL durchgeführt. Die technischen Beamten – und damit das Gros des Personals der Gewerbeaufsicht – waren nicht eingebunden. …

 
S. 60

… Alle technischen Aufsichtsbeamten erhalten bis Ende 2011 eine Basisschulung zum Baustein I (siehe Tabelle 3). 2012 sollen alle technischen Aufsichtsbeamten zum Baustein II qualifiziert werden. Der Baustein III dient dem Erfahrungsaustausch der Aufsichtsbeamten und wird voraussichtlich 2013 durchgeführt.
Verbindliche Schulungsinhalte für alle Mitarbeiter mit Revisionstätigkeiten</p>
<p>== Schulungsangebot ==<br />
Basisschulung Baustein I<br />
Basisschulung Baustein II<br />
Erfahrungsaustausch und 'Gefährdungsbeurtei lung'<br />
Basisschulung Baustein III<br />
Erfahrungsaustausch</p>
<p>== Lernziele ==<br />
Aneignung von: Grundkenntnissen zum Themenfeld psychische Belastungen (pB) Integrationsansätzen in die Besichtigungstätigkeit<br />
I. Festigung des erworbenen Wissens, Austausch von Erfahrungen<br />
II.Befähigung zur Information, Beratung und Überwachung zur Gefährdungsbeurteilung (Teil 'Psychische Belastung')<br />
 Festigung des erworbenen Wissens,<br />
 Austausch von Erfahrungen</p>
<p> == Inhalte ==<br />
  Begriffklärung Stress, Belastungs-Beanspruchungs-Konzept<br />
 Risikofaktoren: Begriffe, Beispiele, Bedeutung<br />
 Ressourcen: Begriffe, Beispiele, Bedeutung<br />
Indikatoren von pB im Betrieb<br />
Kurz- und langfristige Folgen von psychischen Belastungen<br />
Tätigkeitsmerkmale der Arbeitsgestaltung<br />
Gestaltungsempfehlungen, Handlungsfelder, Beispiele, Lösungen, Erfah-<br />
rungsaustausch<br />
Relevanz der Erkenntnisse für die Arbeitsschutzverwaltung<br />
Erste Schritte im Betrieb: Wie spreche ich mit dem Arbeitgeber<br />
eigene Rolle und Grenzen<br />
 I. Erfahrungen unter anderem zu/zum<br />
  Bedingungen im Betrieb, Fallbeschreibung<br />
 Vorgehen im Betrieb<br />
 II.Gefährdungsbeurteilung:<br />
Methodenübersicht<br />
  Vorstellung praxisnaher Instrumente<br />
 Prozess und Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung<br />
 Beurteilung der Gefährdungsbeurteilung Teil 'Psychische Belastung' entsprechend der 'Leitlinie'<br />
Wie gehe ich konkret im Betrieb vor?<br />
 Erfahrungen unter anderem zu/zum<br />
  Bedingungen im Betrieb, Fallbeschreibung<br />
 Vorgehen im Betrieb<br />
Handlungsbedarf, Risikofaktoren, Ressourcen<br />
Gestaltungsmaßnahmen<br />
Förderliche und hemmende Faktoren<br />
Reaktion des Unternehmens<br />
Möglichkeiten der verbesserten Einbindung in die Besichtigungstätigkeit</p>
<p>== Methoden ==<br />
 Lehrdialog, moderierte Diskussionen, Fallbeispiele, Aktionsplan 'Transfer'<br />
 Lehrdialog, moderierte Diskussionen, Demonstration, Übung<br />
Fallbeispiele, Aktionsplan zur Umsetzung im Betrieb<br />
Praxisbegleitender Erfahrungsaustausch, intern oder extern moderiert</p>
<p>== Dauer ==<br />
 8 Lerneinheiten/ 2 Tage<br />
 8 Lerneinheiten/ 2 Tage<br />
 4 Lerneinheiten/ 1 Tag oder kontinuierlich praxisbegleitend</p>
<p>Tabelle 3: Curriculum für die Qualifizierung von Aufsichtskräften zum Thema 'psychische Belastungen'
Curriculum für die Qualifizierung von Aufsichtskräften zum Thema “psychische Belastungen”

Diese Tabelle finden Sie auch auf Seite 19 in der LV 52 (LASI).

Psychische Belastungen bei 80% der Betriebe nicht beurteilt

Samstag, 21. Juli 2012 - 15:30

2018-06-08: Bundestagsdrucksache 19/01011


Zur Einleitung (2012-07-21): Es gibt mindestens ein größeres Unternehmen, dass vor 2013 der Öffentlichkeit die Unwahrheit mitgeteilt hat. Er berichtete offiziell, dass sein Arbeitsschutz vollständig sei, obwohl ihm auch danach Prozesse zur Beurteilung psychischer Belastungen nachweislich fehlten. In der untenstehenden Statistik stehen die Großunternehmen besser da, als kleinere Unternehmen. Das mag einfach daren liegen, dass die Großunternehmen die Brisanz von Aussagen zum Einbezug psychischer Belastungen in ihrern Arbeitsschutz besser verstanden hatten und darum aus rechtlichen Gründen falsche Angaben machten, also lügen. Mangels Qualifikation konnten die Gewerbeaufsichten das nicht überprüfen. Ich vermute daher, dass im Jahr 2012 psychische Belastungen in noch mehr als 80% der Betriebe nicht beurteilt wurden.

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Drucksache 17/10026, 2012-07-03
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/102/1710229.pdf
(oder http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2012/07/1710229vorab.pdf)

Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz


9. Wie häufig stellte sich nach Kenntnis der Bundesregierung bei Betriebsbesichtigungen pro Jahr seit 2005 bis heute absolut und prozentual zu allen geprüften Betrieben heraus, dass die geprüften Betriebe keine Gefährdungsbeurteilungen bzw. Gefährdungsbeurteilungen ohne die Beachtung von psychischen Gefährdungen durchgeführt haben (bitte nach Gewerbeaufsicht in den Ländern, Unfallversicherung und Berufsgenossenschaften differenzieren)?

Diese Daten werden in den Jahresberichten der staatlichen Arbeitsschutzbehörden der Länder bisher statistisch nicht erfasst, und auch die Unfallversicherungsträger verfügen nicht über verlässliche Aussagen.

Im Rahmen der Dachevaluation der 1. Periode zur Umsetzung der GDA wurden deutschlandweit über alle Wirtschafts- und Größenklassen insgesamt 6500 Arbeitgeber zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen befragt. Aus den Antworten ergibt sich, dass 52 Prozent der befragten Arbeitgeber für ihren Betrieb angaben, eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt zu haben. Je kleiner ein Betrieb desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gefährdungsbeurteilung erstellt wurde. Ähnliche Ergebnisse ergab eine im Jahr 2009 von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführte repräsentative Befragung von Inhaberinnen und Inhabern bzw. Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern in Klein- und Kleinstunternehmen (BAuA: „Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Inhaber/innen/Geschäftsführer/innen in Klein- und Kleinstunternehmen“, Dortmund/Berlin/Dresden 2011).


[Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen nach Größenklasse
(„Werden an den Arbeitsplätzen in Ihrem Betrieb Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt?“)
Quelle: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD;
Drucksache 17/10026, 2012-07-03, “Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz”.
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/102/1710229.pdf
Umfrage: Presseinformation "Arbeitsschutz auf dem Prüfstand: Qualitätsbarometer beschlossen"
(http://www.gda-portal.de/de/pdf/PM-Evaluation.pdf?__blob=publicationFile&v=2, 2011-05-11).]

[...] [Es] wird deutlich, dass der Schwerpunkt bei den Besichtigungen im ‘Technischen Arbeitsschutz’ liegt. Das Sachgebiet ‘Arbeitsplatz, Arbeitsstätte, Ergonomie’ wird bei jeder zweiten Besichtigung thematisiert, das Sachgebiet ‘Arbeitszeit’ bei jeder zehnten Besichtigung. Das Sachgebiet „psychische Belastung“ wird hingegen im Durchschnitt bei jeder neunzigsten Besichtigung behandelt. [...]

[...] In der o. g. repräsentativen Befragung wurde nach der Einbeziehung der „psychischen“ Belastungsfaktoren „soziale Beziehungen“ und „Arbeitszeitgestaltung“ in die Gefährdungsbeurteilung gefragt. 44 Prozent bzw. 48 Prozent der befragten Betriebe, die eine Gefährdungsbeurteilung durchführen, gaben an, dass sie diese Belastungsfaktoren einbezogen haben. In der erwähnten Untersuchung wurde auch direkt nach der Einbeziehung psychischer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung gefragt. Bezogen auf die Grundgesamtheit der repräsentativen Stichprobe von 6500 Betrieben führen insgesamt 20 Prozent der befragten Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung unter Einbeziehung von psychischen Belastungen durch. Die entsprechende Verteilung auf die Betriebsgrößenklassen zeigt die oben angeführte Abbildung.
[...]

In der Umfrage wurden Unternehmen (Geschäftsführungen beziehungsweise Arbeitsschutzfachleute) in den Betrieben befragt. Von großen Betrieben, die vor allem auf die Rechtssicherheit des Top-Managements achten, könnten auch Fehlangaben gekommen sein, damit keine Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen dokumentiert werden oder Zertifikate zurückgegeben werden müssen. Mir ist ein Betrieb bekannt, der hier bei Angaben zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz schlicht lügt.

Die Betriebsräte dieser Unternehmen könnten den den Gewerbeaufsichten gegebenenfalls nähere Angaben machen. Diese Schutzbehörden bleiben aber weiterhin unkritisch und fragen in den Betrieben nicht aktiv nach Belegen für behauptete Arbeitsschutzmaßnahmen im Bereich der psychischen Belastungen. Denn bei genauerer Kontrollen müssten Aufsichtspersonen feststellen, dass sie in der Vergangenheit den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz der Betriebe in der Vergangenheit nicht gründlich und kompetent genug kontrolliert hatten. Das gemeinsame Versagen bindet Geprüfte und Prüfer darum enger aneinander, die zu schützenden Mitarbeiter haben das Nachsehen.

Es gibt Betriebe, die nach OHSAS 18001 zertifiziert sind, aber das Thema der psychischen Belastungen nicht ausreichend in ihren Arbeitsschutz integriert haben. Von Zertifikaten für Arbeitsschutzsysteme versprechen sich die Prüfer der Gewerbeaufsicht leider mehr, als diese Zertifikate wirklich bieten. Auch kann es vorkommen, dass Arbeitsschutzfachleute psychische Belastungen nicht ernsthaft beurteilen, den Begriff aber in der Gefährdungsbeurteilung zur Beruhigung überforderter Aufsichtsbeamter der Form halber ohne irgendwelche Aussagen zur Qualität des Arbeitsschutzes in diesem Bereich erwähnen. Sie können dann sagen, sie dass psychische Belastungen thematisiert worden seien. Und schon wieder gefährdet diese Scheinsicherheit die Arbeitnehmer.

Wegen dieser Situation hätten auch die Betriebsräte und die Personalräte in der bundesweite Umfrage befragt werden müssen, und zwar auch kritisch, denn viele Arbeitnehmervertretungen verstehen das Thema der psychischen Belastungen immer noch nicht gut genug.

Aber das Ergebnis ist so oder so eine Ohrfeige für die Arbeitsschutzpolitik aller seit 1996 dafür Verantwortlichen, nicht nur aus der Sicht des Arbeitsschutzes, sondern auch aus rechtsstaatlicher Sicht. Wir haben hier einen massenhaften Rechtsbruch, der sogar heute noch von den Behörden toleriert wird. Ich verlange ja nicht gleich Strafen, sondern wenigstens die Kontrolle leicht prüfbarer Dinge. Beispielsweise werden psychische Belastungen in vielen Unternehmen überhaupt nicht in die Arbeitsschutzunterweisung einbezogen. Unterlagen und Belege fehlen. Aber die Gewerbeaufsicht protokolliert nicht einmal solche eindeutigen Mängel.

Die Hoffnung auf unternehmerische Eigenverantwortung rechtfertigte den netten Versuch laxer Kontrolle vielleicht, aber dieser Versuch hätte früher beendet werden müssen: Mindestens die Hälfte der Großunternehmen missachtete über viele Jahre hinweg die Pflicht, die Gefährdungskategorie “psychische Belastungen” in den Arbeitsschutz zu integrieren. Eigentlich ist das Anarchie, aber sie erstaunt uns nicht mehr. Einerseits leben wir in einem Land, in dem Sozialhilfeempfänger penibel kontrolliert werden, damit sie keinen Cent zuviel bekommen. Andererseits trauen wir uns nicht, Unternehmer zu überwachen, deren Mehrheit auch heute noch die Gesundheit ihrer Mitarbeiter bis hin zur Körperverletzung auf das Spiel setzt. Angesichts der Geschichte kann heute die nachhaltige Respektlosigkeit dieser Unternehmer gegenüber den Arbeitsschutzbestimmungen eigentlich kein Versehen mehr sein.

-> Alle Beiträge zu dieser Kleinen Anfrage im Bundestag

 
Siehe auch:

 


2013-01-05

Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK):
http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2013/01/Protokoll_ASMK_2012.pdf

Ergebnisprotokoll der 89. Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder am 28./29. November 2012 in Hannover

Umsetzungsdefizite

Dem Bedeutungswandel im Spektrum der Arbeitsbelastungen muss in der Gesetzgebung und in der betrieblichen Praxis Rechnung getragen werden: Ein Arbeitsschutz, der psychische Belastungsfaktoren nicht oder nicht angemessen in seinen Fokus nimmt, wird in der modernen Arbeitswelt das Ziel, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren und Unfälle zu vermeiden und Arbeit menschengerecht zu gestalten, nicht erfüllen.

Trotz richtungsweisender Aktivitäten der Länder und anderer Arbeitsschutzakteure, trotz der Anstrengungen vieler Betriebe im Handlungsfeld psychischer Belastungen: Es mangelt an einer stärkeren Verbindlichkeit für die Betriebe und an mehr Handlungssicherheit für die Aufsichtsbehörden. Darüber hinaus muss auch die Kompetenz der verantwortlichen Akteure gefördert werden.

Defizite in Betrieben

Psychische Belastungen spielen keine oder nur eine untergeordnete Rolle in der Gefährdungsbeurteilung. So ergab eine Betriebsrätebefragung, dass in 58 Prozent der Betriebe mit mehr als neunzehn Beschäftigten eine Gefährdungsbeurteilung ganz oder teilweise durchgeführt wurde, darunter aber lediglich zwanzig Prozent auch psychische Belastungen ermittelten (WSI 2008/2009). Eine repräsentative Befragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zeigte für Klein- und Kleinstbetriebe (< 50 Beschäftigte) ein noch schlechteres Ergebnis: Nur 38 Prozent dieser Betriebe hatte eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, nur sechs Prozent ermittelten davon auch psychische Belastungen. (Sczesny, C., Keindorf, S., Droß, P. 2011, S.45ff.). Die jüngsten Ergebnisse der Dachevaluation der GDA bestätigen die unzureichende Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen. Von den befragten 6.500 Arbeitgebern antwortete nur jeder Zweite, dass in seinem Betrieb eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde. Von diesen Betrieben berücksichtigte nur jeder fünfte Betrieb psychische Belastungen (soziale Beziehungen, Arbeitszeitgestaltung). Je kleiner der Betrieb, desto seltener lag eine Gefährdungsbeurteilung vor und desto geringer war der Anteil von Betrieben, die psychische Belastungsfaktoren ermitteln (BMA 2012, S. 10f.). Über die anschließende Umsetzung von Maßnahmen gibt es bisher keine Erkenntnisse. Die Gründe für die unzureichende Beurteilung von Arbeitsbedingungen und vermutlich noch geringere Umsetzung geeigneter Maßnahmen sind vielfältig. Es fehlt das Verständnis für psychische Belastungen, die Anforderungen sind unklar, es herrscht Unsicherheit über anzuwendende Instrumente und es mangelt an der Kompetenz der zuständigen Akteure.

Die Begriffsdefinitionen, Verpflichtungen und Grundsätze im Arbeitsschutzgesetz (z.B. §§ 2, 3, 4, 5 ArbSchutzG) reichen offenbar nicht, um psychische Belastungen angemessen zu berücksichtigen und Arbeitsbedingungen menschengerecht zu gestalten. Auch andere geltende gesetzliche Regelungswerke werden nicht in erforderlichem Maße umgesetzt, obwohl die Beurteilung psychischer Belastungsfaktoren mittelbar oder unmittelbar enthalten ist (Arbeitssicherheitsgesetz [gemeint ist wohl "Arbeitsschutzgesetz"], Bildschirmarbeitsverordnung, etc.).

Defizite im Aufsichtshandeln

Wie in den Betrieben werden psychische Belastungen auch von den Gewerbeaufsichten in der Überwachungspraxis nicht angemessen berücksichtigt (Beck D., Richter G., Lenhardt U. 2012). Die Gründe dafür unterscheiden sich nicht wesentlich von denen in den Unternehmen. Es herrscht auch bei den Aufsichtsbeamtinnen und –beamten noch eine große Unsicherheit bei diesem Thema und die Beurteilungsmaßstäbe für die Angemessenheit von Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen sind unklar. Trotz bestehender Konzepte, existierender Handlungshilfen und Qualifizierungsoffensiven der Arbeitsschutzbehörden müssen sich die vorwiegend technisch ausgebildeten staatlichen Aufsichtspersonen den Zugang zu den „modernen“ Belastungen im Aufsichtshandeln noch besser erschließen. Die Veränderungen im Anforderungsprofil des Aufsichtspersonals durch Neueinstellungen oder Nachbesetzungen von Angehörigen anderer nicht technisch ausgebildeter Berufsgruppen, vollzieht sich nur langsam. Erschwerend kommt hinzu, dass die rechtliche Unverbindlichkeit dafür sorgt, dass im Spannungsfeld zwischen Unternehmensleitungen und staatlicher Aufsicht die Durchsetzungsfähigkeit für konkrete Forderungen an die Betriebe stark eingeschränkt ist.

(Link nachträglich eingefügt)

Zu guter Letzte: Es gibt Betriebe, die nach OHSAS 18001 zertifiziert worden sind, obwohl ihnen mitbestimmte Prozesse zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz fehlen. Manche Zertifizierungen durch externe Auditoren (auf die sich die Gewerbeaufsichten leider formal verlassen) sind also nur eine Farce.