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Gesundheitsmanagement als Schleier

Montag, 6. Juni 2011 - 08:07

Wolfgang Hien: Arbeitswelt und seelische Gesundheit, gute ARBEIT, 2011-05, S. 37-39
http://www.gutearbeit-online.de/archiv/beitraege/2011/2011_05_37_39.pdf (nicht mehr on-line) und http://www.wolfgang-hien.de/download/Arbeiten-2011.pdf:

Immer mehr Menschen können mit der Dynamik des Wirtschaftslebens nicht mehr mithalten. Sie werden seelisch krank. Die Daten der Krankenkassen und Rentenversicherung – psychische Erkrankungen stehen seit 2004 auf „Platz Eins“ der Frühberentungsgründe (Hien 2006) – sprechen eine deutliche Sprache. Neue Management-Techniken kalkulieren gezielt Erkrankungen ein. Betriebliches Gesundheitsmanagement wird häufig als Anpassungstraining an die neuen Verhältnisse missbraucht. Stattdessen käme es darauf an, im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes humane Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dazu ist es aber auch erforderlich, dass die Beschäftigten selbst ihre Haltung und ihr tägliches Verhalten ändern. …

„Gesundheitsmanagement” verschleiert oft die Ursachen.

… Das in vielen Unternehmen etablierte „Gesundheitsmanagement” im Sinne gesundheitsförderlicher Maßnahmen, die sich auf Verhaltensprävention konzentrieren, muss sehr kritisch betrachtet und bewertet werden. Nicht selten werden nämlich präventive und beteiligungsorientierte Konzepte zur humanen Arbeitsgestaltung umgangen oder gar verworfen und an deren Stelle ein konzeptionelles Vorgehen gesetzt, das alleine verhaltenspräventiv und leistungssteigernd angelegt ist. Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sollen nicht mehr im Sinne der Humanisierung verändert werden. Stattdessen werden Schwächere stigmatisiert und letztlich ausgegliedert. Arbeitsmediziner/innen, Sozialberater/innen und - inzwischen in wachsender Anzahl - auch Gesundheitswissenschaftler/innen werden zunehmend für diese Unternehmenspolitik instrumentalisiert.

Dieser Entwicklung sollte dringend Einhalt geboten werden. Es geht hier nicht darum, freiwillige Angebote allgemeiner Prävention hinsichtlich einer Verbesserung der Lebensweise zu kritisieren; es geht eher darum, diese Angebote nicht zu einer Pflichtveranstaltung werden zu lassen, die den Arbeits- und Gesundheitsschutz ersetzt. Gegen diese Entwicklung auf allen Ebenen - der betrieblichen wie der überbetrieblichen - gemeinsam mit allem in der betrieblichen Prävention Involvierten Professionen und Experten anzugehen, ist ein Gebot der beruflichen bzw. professionellen Verantwortungsethik. Ein Gesundheitsmanagement, das sich dafür einspannen lässt, Hochleistungsbelegschaften herauszuselektieren, verfehlt seinen Auftrag. …

(Der Link zu diesem Blog wurde nachträglich eingefügt.)

„Neue Management-Techniken kalkulieren gezielt Erkrankungen ein” ist vielleicht ein bisschen zu krass ausgedrückt. Ein Schwerpunkt neuer Managementechniken scheint mir eher Verantwortungsvermeidung zu sein. Das Arbeitsschutzgesetz nimmt die Arbeitgeber in die Pflicht zur Verhältnisprävention und verlangt von ihnen eine Selbstbeobachtung der Arbeitsverhältnisse ab (z.B. Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen), die ihnen eher unangenehm ist. Lieber ist den Arbeitgebern die Kür: Im Rahmen eines professionell nach Innen und Außen kommunizierten “Gesundheitsmanagements” bieten sie den Mitarbeitern werbewirksame “Angebote” zur “Gesundheitsförderung” an.

Dabei liegt der Schwerpunkt auf einer Verhaltensprävention, mit der die Arbeitgeber ihre Verantwortung zu den “eigenverantwortlichen” Mitarbeitern zu verschieben versuchen. Damit lassen sich nicht nur externe Auditoren einseifen, sondern auch eine Gewerbeaufsicht, die u.A. vergisst, dass der Arbeitgeber alle Kosten des gesetzlichen Gesundheitsschutzes zu tragen hat. Maßnahmen, für die Mitarbeiter Urlaubstage opfern und/oder Kosten tragen können, sind als Maßnahmen des Gesundheitsmanagements und/oder der Gesundheitsforderung möglich, aber dürfen nicht als Umsetzung der Forderungen des gesetzlichen Arbeitsschutzes bewertet werden.

Anstatt arbeitsbedingte Gefährdungen durch psychische Belastungen zu erfassen und zu beurteilen, vermeiden Arbeitgeber lieber die Wahrnehmung und Dokumentation von die seelische Gesundheit beeinträchtigenden Vorfällen und Risiken, da sich daraus eventuell Haftungsprobleme (mit Auswirkungen auf die an die Berufsgenossenschaften zu zahlenden Versicherungsbeiträge) ergeben. Auch sehr unangenehm für so manche Führungskraft: Die Erfassung von psychisch gefährdenden Vorfällen und Risiken könnte die Führungskultur im Betrieb in Frage stellen. Zudem ist das Erkennen psychische Fehlbelastungen komplizierter, als das Erkennen der Gefährdungen, denen sich der technische Arbeitsschutz widmet. Da die Gewerbeaufsicht das Thema auch nicht gut versteht, können Unternehmer hier leichter die Gesetze brechen und tun das oft auch. Das Gesundheitsmanagement muß dann nach innen und außen so verkauft werden, dass Verstöße gegen die Regeln des Arbeitsschutzes nicht auffallen – oder sogar mit Verachtung für als realitätsfern dargestellte Regeln gebilligt werden.

 


2012-11-15

http://www.politikexpress.de/betriebliches-gesundheitsmanagement-als-werkzeug-gegen-psychische-erkrankung-552442.html ist ein Beispiel für eine Darstellung, in der die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) von einer Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG, Saarbrücken) als Werkzeug gegen psychische Erkankungen angepriesen wird.

… Soll Gesundheitsförderung im betrieblichen Umfeld langfristig erfolgreich sein, ist ein unternehmensspezifisches Gesamtkonzept notwendig. „Im Sinne eines betrieblichen Gesundheitsmanagements wird die Grundlage gelegt, dass genau die gesundheitlich relevanten Umstände entdeckt, ausgewertet und mit passenden praktischen Maßnahmen (z. B. Rückenschule am Arbeitsplatz, Stresskompetenztraining etc.) angegangen werden können, die im Betrieb relevant sind“, so Allmann.

Die richtigen regionalen Ansprechpartner für BGM-Projekte liefert die bundesweite Initiative „Gesundheit im Betrieb selbst gestalten“, die vom Arbeitgeberverband deutscher Fitness- und Gesundheits-Anlagen und der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement initiiert wurde …

Für die private Hochschule spielt die Verhältnisprävention also nicht einmal im unternehmensspezifischen Gesamtkonzept eine Rolle, obwohl sie gesetzlich vorgeschrieben ist. Bei solchen Hochschulen können Arbeitgeber (und Hersteller von Turngerätschaften) vermutlich die “arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse” bestellen, die sie zur Verdrängung unangenehmerer Aufgaben im gesetzlichen Arbeitsschutz benötigen.

Die BGF kann durchaus verhaltenspräventive Beiträge gegen psychische Erkrankungen leisten, aber dabei den verhältnispräventiven Arbeitsschutz zu marginalisieren oder überhaupt nicht zu erwähnen, ist manipulative und irreführende Kommunikation. Wird hier ein Weg bereitet, der auch in Zukunft die straflose Missachtung der Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes ermöglichen soll?