Schlagwort 'Pflicht und Kür'

INSITE interventions

Mittwoch, 16. Dezember 2015 - 06:30

INSITE Interventions ist eines von jenen bei Arbeitgebern beliebten Beratungsunternehmen, die verhaltenspräventiv arbeiten. Die Verhaltensprävention setzt im Bereich der arbeitsbedingten psychischen Belastungen im Wesentlichen am individuellen Verhalten der einzelnen Mitarbeiter an. Stichworte: Stressmanagement, Resilienz, Eigenverantwortung usw.

Die Mitarbeiter werden in die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit genommen – allerdings von Arbeitgebern, deren ganz große Mehrheit bis 2012 ihrer eigenen Verantwortung nicht gerecht wurde, die von ihnen im ganzheitlichen Arbeitsschutz seit 1997 geforderte Verhältnisprävention umzusetzen. Unsere Rechtskultur ist inzwischen so weit, dass Unternehmer, die ein Schutzgesetz für falsch halten, ganz locker dagegen verstoßen können. Anstatt ihre Ressourcen in die Erfüllung ihrer Pflichten zu stecken, konzentrieren sie sich auf angenehmere Kür: Lieber betreiben die Arbeitgeber mit viel Werbegetrommel ihr Vorzeige-Gesundheitsmanagement, anstatt die Arbeitsverhältnisse durch die vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung auch psychischer Belastungen transparent zu machen. Lieber wenden sie sich der fürsorglichen Belagerung “psychisch auffälliger” Mitarbeiter zu, anstatt mit der Dokumentation auffälligre Arbeitsbedingungen ihre Berichterstattung zur Corporate Social Responsibility (CSR) zu belasten.

Anlässlich der Verleihung des Corporate Health Awards 2015 hielt Dr. Hansjörg Becker einen Vortrag, in dem es um den aus Dr. Beckers Sicht übertriebenen Aufwand für die Gefährdungsbeurteilung sowie um die angeblichen Vorzüge der Verhaltensprävention gegenüber der Verhältnisprävention ging. Bei genauerem Hinsehen gewinnt in dem Vortrag aber die Verhältnisprävention.

Betriebsräte in Unternehmen, die sich von INSITE Interventions beraten lassen und/oder den/das EAP (Employee Assistance Plan, Employee Assistance Program) von INSITE Interventions nutzen, sollten einen eigenen Organisationspsychologen als Berater hinzuziehen, damit die gesetzliche Prioritäten des Arbeitsschutzes besser beachtet werden können.

Es ist doch klar, dass Verhältnisprävention und die Gefährdungsbeurteilung nicht helfen, wenn die Unternehmen unter den Augen der Gewerbeaufsicht der Verhaltensprävention den Vorzug geben und die Beurteilung psychischer Belastungen nicht vorschriftsmäßig durchführen. Sie haben ja von der Gewerbeaufsicht keine schmerzhaften Sanktionen zu befürchten. Bei diesen anarchischen Zuständen im deutschen Arbeits- und Gesundheitsschutz ist es kein Wunder, dass auch in fast 20 Jahren seit Bestehen des ganzheitlich und verhältnispräventiv orientierten Arbeitsschutzgesetzes nur wenig Erfahrungen mit der Beurteilung psychischer Belastungen und mit der Verhältnisprävention generiert werden konnten. Den von den Unternehmern zu verantwortenden Mangel an verhältnispräventiver Praxis zur Argumentation gegen die Verhältnisprävention und gegen die Wichtigkeit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen zu verwenden, ist nicht seriös.

Gefährdungsbeurteilung dokumentiert mögliche Haftungsgründe

Die Gefährdungsbeurteilung birgt Risiken für Arbeitgeber. Die Arbeitgeber mögen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen wohl auch deswegen nicht so sehr, weil sie mögliche Haftungsgründe dokumentieren könnte. Wird ein Mitarbeiter physisch oder psychisch so verletzt (z.B. Arbeitsunfall oder arbeitsbedingte psychische Erkrankung), kann er Ansprüche zwar grundsätzlich nur gegenüber der Berufsgenossenschaft geltend machen, aber das hat auch nachteilige Auswirkungen auf den Arbeitgeber.

Psychische Fehlbelastungen sind ein so angenehm unscharfes Thema; ohne Dokumentation bleibt für arbeitsbedingt psychische erkrankte Mitarbeiter die Beweisführung bei der Berufsgenossenschaft und vor Gericht extrem schwierig. Konkret dokumentierte psychische Fehlbelastungen sind den Arbeitgebern aus haftungsrechtlichen Gründen darum eher unangenehm, unsbesondere wenn er sie hätte abstellen müssen. Als Argument gegen die Gefährdungsbeurteilung werden Arbeitgeber das aber nicht offen ins Feld führen.

Lieber werden Arbeitgeber mit wissenschaftlich aussehenden Argumenten versuchen, die Dokumentation (und ggf. auch die Vorfallserfassung) von psychischen Fehlbelastungen zu marginalisieren. Das Mittel dazu sind Ausweichstrategien, mit denen sich Arbeitgeber zur Vermeidung einer ihnen unangenehmen Verhältnisprävention scheinbar menschenfreundlich dem einzelnen Mitarbeiter zuwenden. Ein EAP ist sinnvoll und hilfreich, aber wenn es als Arbeitsschutzmaßnahme der ersten Wahl verkauft wird, müssen Betriebsräte hier besonders aufmerksam die Einhaltung des Arbeitsschutzgesetzes überwachen und eine fürsorgliche Belagerung der Mitarbeiter verhindern (Die Gewerbeaufsicht wird dabei wenig helfen, denn sie lässt sich zu leicht verhaltenspräventiven Projekten des Gesundheitsmanagements beeindrucken.) Dabei haben Betriebsräte einen Anspruch auf einen ihre Interessen vertretende Beratung.

Pflicht und Kür

Freitag, 20. September 2013 - 06:38

Betriebliches Gesundheitsmanagement
Gesunde Mitarbeiter, gesundes Unternehmen
(IHK Bonn/Rhein-Sieg, DIE WIRTSCHAFT SEPTEMBER 2013)
http://www.ihk-bonn.de/fileadmin/dokumente/News/Die_Wirtschaft/Die_Wirtschaft_2013/09/Dokumente/Betriebliches_Gesundheitsmanagement.pdf

 
S. 10 (PDF 3/16):

[...] Alle Unternehmen in Deutschland müssen im Rahmen bestehender Gesetze, etwa dem Arbeitssicherheits- und dem Arbeitsschutzgesetz, für ihre Beschäftigten Maßnahmen zum Arbeitsschutz und zur Unfallverhütung umsetzen. Das ist die Pflicht, an der auch kleine und mittlere Betriebe nicht vorbeikommen. Die Kür ist alles das, was darüber hinausgeht. [...]

 
S. 20 (PDF 13/16):

[...] Gesund am Arbeitsplatz:
Pflicht und Kür
Interview mit Professor Dr. Bernd Siegemund,
Vorsitzender der Geschäftsführung der B·A·D Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH, Bonn
[...]
Sind Firmen nicht ohnehin verpflichtet, sich um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu kümmern?
Es gibt Pflicht und Kür. Der Gesetzgeber verpflichtet jeden Arbeitgeber, je nach Betriebsgröße und Branche bestimmte Maßnahmen zum Arbeitsschutz und zur Unfallverhütung zu ergreifen. Maßgeblich sind zum Beispiel das Arbeitssicherheits- und Arbeitsschutzgesetz. Es steht aber jedem Unternehmen frei, über diese Pflicht hinaus die Gesundheit seiner Beschäftigten zu fördern. Und das halte ich, wie gesagt, inzwischen für ein Muss, wenn ein Betrieb nicht massiv an Attraktivität und Leistungsfähigkeit verlieren will. [...]

 
Zu “Pflicht und Kür” gibt es in diesem Blog schon frühere Beiträge. Wie glaubwürdig ist die Werbung von Wirtschaftsverbänden für die Kür, wenn große Teile ihrer Klientel nicht zuerst ihre Pflichten im Arbeitsschutz erfüllen wollen?

Die Kür vor der Pflicht ist die verkehrte Reihenfolge

Samstag, 8. Dezember 2012 - 10:58

In https://www.xing.com/topics/de/betriebliches-gesundheitsmanagement-8826 weist Klaus Schomacker auf die DIN SPEC 91020 hin, eine größtenteils von Privatunternehmen vorangetriebene Spezifikation zum Betrieblichen Gesundheitsmanagemet (BGM). Sein Unternehmen bietet auch Betriebsräteschulungen an.

… Das Neueste dazu ist die DIN SPEC 91020, die die Einführung eines BGM in einem Betrieb umfassend beschreibt. Wie eine Norm es halt macht, Lücken in der Umsetzung inklusive. …

 
Ich meine, dass sich Betriebsräte zunächst mit der ILO-OSH und mit OHSAS 18001 (bzw. OHSAS 18002) befassen sollten, bevor sie sich der DIN SPEC 91020 zuwenden. Oder kürzer: Zuerst kommt der Arbeitsschutz als Pflicht, dann kommt das Betriebliche Gesundheitsmanagement als Kür. Solange beispielsweise ein Unternehmen mit einem mangelhaften Einbezug psychischer Belastungen gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzes verstößt, hat das Unternehmen erst einmal seine Hausaufgaben zu erledigen, bevor freiwillige Wohltaten verteilt werden.

Außerdem gibt es in OHSAS 18001:2007 sogar einen Absatz zur Mitbestimung. In der DIN SPEC 91020 ist die Mitwirkung der Arbeitnehmer schwächer, was angesichts der fehlenden Konsensbildung bei der Entwicklung einer DIN SPEC im PAS-Verfahren ja auch nicht überraschend ist.

Eine Zertifizierung nach ILO-OSH oder OHSAS 18001 kann für international operierende Unternehmen wichtig sein. Wer noch genug Geld hat, kann dann mit einem Zertifikat zur die DIN SPEC 91020 noch ein Sahnehäubchen für sein Employer Branding draufsetzen. Außerdem gibt es hier auch eine Alternative: Der SCOHS.

Wirbt ein Unternehmen dagegen nur mit der DIN SPEC 91020 ohne sich dabei nach einem Standard für Arbeitsschutzmanagementsysteme zu richten, dann sollten sich Bewerber überlegen, ob das eher verhaltenspräventionsorientierte BGM eine Marginalisierung des verhältnispräventionsorientierten Arbeitsschutzes verschleiern soll.

Dann gibt es noch einen Unterschied zwischen Arbeitsschutz und BGM:

  • Pflicht: Im Arbeitsschutz zahlen die Mitarbeiter keinen Cent. Ihre Zeit für den Arbeitsschutz ist Arbeitsszeit.
  • Kür: Die praktischen Umsetzungen des BGM und der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) sollen die Mitarbeiter dagegen anregen, zur Erhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit Freizeit und ggf. auch Geld in ihre Gesundheit zu inverstieren. Diese Art von Fürsorge bekommt allerdings ein ziemlich schales Geschmäckle, wenn der Arbeitsschutz noch nicht ausreichend implementiert ist.

http://bgm-eup.de/?p=39 (2012-11-29): Positiv ist, dass EWALD & Partner auch OHSAS 18001 als einen für das BGM relevanten Standard erwähnen. Die DIN SPEC 91020 als “relevante Norm” zu bezeichnen ist vielleicht etwas verfrüht. Ansonsten bringt Klaus Schomacker gut auf den Punkt, was auch mich an dieser DIN SPEC stört:

… Kommentar zur Norm: Die vorliegende DIN SPEC 91020 fasst den aktuellen Diskussionsstand im betrieblichen Gesundheitsmanagement zusammen und strukturiert die Fragestellung in sinnvoller Weise. Hervorzuheben ist der Ansatz Nachhaltigkeit durch die Implementierung des BGM in die ISO 9001 zu erreichen.

Die Bedeutung der Veränderung von Firmenkultur und wertschätzender Führung ist enthalten, aber aus meiner Sicht nicht der Bedeutung entsprechend gewürdigt.

Der größte Mangel besteht in der völlig offenen Gestaltung der nachhaltigen Partizipation der Mitarbeiter im BGM-Modell.

Nicht Aufgabe der Norm, aber dennoch gravierend fehlend, ist die Beteiligung der Interessenvertretungen! Insbesondere, da die Beteiligung in nahezu allen Element erforderlich ist, das Thema gleichzeitig sehr komplex ist, besteht hier der größte Handlungsbedarf bei der Konzeption einer Einführung eines BGM. …

BGM besser als der Arbeitsschutz?

Donnerstag, 22. November 2012 - 06:28

Ulrich F. Schübel
Institut fÜr Veränderungsmanagement, Unternehmensentwicklung und Training
http://www.gesundheitswirtschaft.ihk.de/linkableblob/1858566/.4./data/Betriebliches_Gesundheitsmanagement_als_Management_und_Fuehrung-data.pdf;jsessionid=3DCE9D04D3CCDC87EFDCCEFF4193F8E5.repl2 (2012-04)


Gesundheit als Managementaufgabe
Defizite der Vergangenheit

Traditionelle Vorgehensweisen im Rahmen eines Arbeits- und Gesundheitsschutzes

  • konzentrieren sich auf eine Verringerung schädigender oder gefährdender Arbeitsbedingungen,
  • vernachlässigen Verhalten der Mitarbeiter ebenso wie psychische und soziale Aspekte von Gesundheit,
  • siedeln Bemühungen zur Gesunderhaltung in der Regel bei Spezialisten an (z.B. Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz).
  • Resultierendes Defizit: Etablierung von Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung auf Basis eines umfassenden Managementsystems und Verknüpfung mit bereits existierenden Managementsystemen gelingt nicht oder nur sehr unzureichend.

    Diese Darstellung erweckt den Eindruck, dass das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) mehr böte, als der Arbeitsschutz. BGM ist aber keine Alternative zum Arbeitsschutz. Sondern Arbeitsschutz ist die Voraussetzung für BGM: Bevor ein BGM eingerichtet wird, müssen überhaupt erst einmal die grundlegenden Hausaufgaben im Arbeitsschutz erledigt werden. Das ist die Pflicht. Niemand hindert Unternehmer daran, ein über den Arbeitsschutz hinausgehendes BGM einzurichten. Das wäre dann die Kür.

    Der Arbeitsschutz konzentriert sich bewusst auf eine Verringerung schädigender oder gefährdender Arbeitsbedingungen. Die Regeln des Arbeitschutzes (und die Urteile dazu) berücksichtigen die psychischen und sozialen Aspekte von Gesundheit sehr wohl, aber die Mehrheit der Arbeitsgeber hat die vorgeschriebene verhältnispräventive Umsetzung vernachlässigt. Ihnen ist vielleicht ihr traditioneller Ansatz lieber: Mit diesem verhaltenspräventiv Ansatz werden die Mitarbeiter fürsorglich belagert. Genau diesen das Individuum bedrängenden Ansatz will der moderne, ganzheitliche Arbeitsschutz verändern. Dazu gibt es eine flexible Rahmengesetzgebung, innerhalb der Arbeitgeber und Arbeitnehmer betriebsnahe Lösungen vereinbaren können.

    Es gibt auch Managementsysteme für den Arbeitsschutz und Normen dazu, z.B. OHSAS 18001 und ILO-OSH. Aber sie werden oft nicht “gelebt”, denn ihre Umsetzung erfordert eine Veränderung von traditionellen Führungsstrukturen und Führungsstilen. Beispielsweise macht der Fokus auf die Arbeitsbedingungen Führungsverhalten transparenter. Das passt nicht zu jedem Führungsstil. Der Arbeitsschutz erhöht die unternehmerische Verantwortung. Die Beschreibung von bisher unbeobachteten Gefährdungen kann zudem zu Haftungsproblemen führen, denen Arbeitgeber bisher auszuweichen versuchten.

    Das BGM wird traditionelleren Ansätzen eher gerecht: Der Fokus liegt wieder auf der Veränderung der Mitarbeiters und der Anpassung ihrer Arbeitsfähigkeit an das “System Arbeit”. Die traditionelle Zuwendung zu einzelnen Mitarbeitern ist ja eine feine Sache, aber wenn vorher gar nicht erst probiert worden ist, sich an die Regeln des Arbeitsschutzes zu halten, dann bekommt diese individuelle Fürsorge ein Glaubwürdigkeitsproblem.

    Vielleicht sind Arbeitgeber offener gegenüber dem BGM, weil sie meinen, es besser kontrollieren zu können. Insbesondere zusammen mit der Mitbestimmung sehen viele Unternehmer im modernen Arbeitsschutz eine Beeinträchtigung ihrer unternehmerischen Freiheit.

    Gesundheitsmanagement als Schleier

    Montag, 6. Juni 2011 - 08:07

    Wolfgang Hien: Arbeitswelt und seelische Gesundheit, gute ARBEIT, 2011-05, S. 37-39
    http://www.gutearbeit-online.de/archiv/beitraege/2011/2011_05_37_39.pdf (nicht mehr on-line) und http://www.wolfgang-hien.de/download/Arbeiten-2011.pdf:

    Immer mehr Menschen können mit der Dynamik des Wirtschaftslebens nicht mehr mithalten. Sie werden seelisch krank. Die Daten der Krankenkassen und Rentenversicherung – psychische Erkrankungen stehen seit 2004 auf „Platz Eins“ der Frühberentungsgründe (Hien 2006) – sprechen eine deutliche Sprache. Neue Management-Techniken kalkulieren gezielt Erkrankungen ein. Betriebliches Gesundheitsmanagement wird häufig als Anpassungstraining an die neuen Verhältnisse missbraucht. Stattdessen käme es darauf an, im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes humane Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dazu ist es aber auch erforderlich, dass die Beschäftigten selbst ihre Haltung und ihr tägliches Verhalten ändern. …

    „Gesundheitsmanagement” verschleiert oft die Ursachen.

    … Das in vielen Unternehmen etablierte „Gesundheitsmanagement” im Sinne gesundheitsförderlicher Maßnahmen, die sich auf Verhaltensprävention konzentrieren, muss sehr kritisch betrachtet und bewertet werden. Nicht selten werden nämlich präventive und beteiligungsorientierte Konzepte zur humanen Arbeitsgestaltung umgangen oder gar verworfen und an deren Stelle ein konzeptionelles Vorgehen gesetzt, das alleine verhaltenspräventiv und leistungssteigernd angelegt ist. Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sollen nicht mehr im Sinne der Humanisierung verändert werden. Stattdessen werden Schwächere stigmatisiert und letztlich ausgegliedert. Arbeitsmediziner/innen, Sozialberater/innen und - inzwischen in wachsender Anzahl - auch Gesundheitswissenschaftler/innen werden zunehmend für diese Unternehmenspolitik instrumentalisiert.

    Dieser Entwicklung sollte dringend Einhalt geboten werden. Es geht hier nicht darum, freiwillige Angebote allgemeiner Prävention hinsichtlich einer Verbesserung der Lebensweise zu kritisieren; es geht eher darum, diese Angebote nicht zu einer Pflichtveranstaltung werden zu lassen, die den Arbeits- und Gesundheitsschutz ersetzt. Gegen diese Entwicklung auf allen Ebenen - der betrieblichen wie der überbetrieblichen - gemeinsam mit allem in der betrieblichen Prävention Involvierten Professionen und Experten anzugehen, ist ein Gebot der beruflichen bzw. professionellen Verantwortungsethik. Ein Gesundheitsmanagement, das sich dafür einspannen lässt, Hochleistungsbelegschaften herauszuselektieren, verfehlt seinen Auftrag. …

    (Der Link zu diesem Blog wurde nachträglich eingefügt.)

    „Neue Management-Techniken kalkulieren gezielt Erkrankungen ein” ist vielleicht ein bisschen zu krass ausgedrückt. Ein Schwerpunkt neuer Managementechniken scheint mir eher Verantwortungsvermeidung zu sein. Das Arbeitsschutzgesetz nimmt die Arbeitgeber in die Pflicht zur Verhältnisprävention und verlangt von ihnen eine Selbstbeobachtung der Arbeitsverhältnisse ab (z.B. Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen), die ihnen eher unangenehm ist. Lieber ist den Arbeitgebern die Kür: Im Rahmen eines professionell nach Innen und Außen kommunizierten “Gesundheitsmanagements” bieten sie den Mitarbeitern werbewirksame “Angebote” zur “Gesundheitsförderung” an.

    Dabei liegt der Schwerpunkt auf einer Verhaltensprävention, mit der die Arbeitgeber ihre Verantwortung zu den “eigenverantwortlichen” Mitarbeitern zu verschieben versuchen. Damit lassen sich nicht nur externe Auditoren einseifen, sondern auch eine Gewerbeaufsicht, die u.A. vergisst, dass der Arbeitgeber alle Kosten des gesetzlichen Gesundheitsschutzes zu tragen hat. Maßnahmen, für die Mitarbeiter Urlaubstage opfern und/oder Kosten tragen können, sind als Maßnahmen des Gesundheitsmanagements und/oder der Gesundheitsforderung möglich, aber dürfen nicht als Umsetzung der Forderungen des gesetzlichen Arbeitsschutzes bewertet werden.

    Anstatt arbeitsbedingte Gefährdungen durch psychische Belastungen zu erfassen und zu beurteilen, vermeiden Arbeitgeber lieber die Wahrnehmung und Dokumentation von die seelische Gesundheit beeinträchtigenden Vorfällen und Risiken, da sich daraus eventuell Haftungsprobleme (mit Auswirkungen auf die an die Berufsgenossenschaften zu zahlenden Versicherungsbeiträge) ergeben. Auch sehr unangenehm für so manche Führungskraft: Die Erfassung von psychisch gefährdenden Vorfällen und Risiken könnte die Führungskultur im Betrieb in Frage stellen. Zudem ist das Erkennen psychische Fehlbelastungen komplizierter, als das Erkennen der Gefährdungen, denen sich der technische Arbeitsschutz widmet. Da die Gewerbeaufsicht das Thema auch nicht gut versteht, können Unternehmer hier leichter die Gesetze brechen und tun das oft auch. Das Gesundheitsmanagement muß dann nach innen und außen so verkauft werden, dass Verstöße gegen die Regeln des Arbeitsschutzes nicht auffallen – oder sogar mit Verachtung für als realitätsfern dargestellte Regeln gebilligt werden.

     


    2012-11-15

    http://www.politikexpress.de/betriebliches-gesundheitsmanagement-als-werkzeug-gegen-psychische-erkrankung-552442.html ist ein Beispiel für eine Darstellung, in der die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) von einer Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG, Saarbrücken) als Werkzeug gegen psychische Erkankungen angepriesen wird.

    … Soll Gesundheitsförderung im betrieblichen Umfeld langfristig erfolgreich sein, ist ein unternehmensspezifisches Gesamtkonzept notwendig. „Im Sinne eines betrieblichen Gesundheitsmanagements wird die Grundlage gelegt, dass genau die gesundheitlich relevanten Umstände entdeckt, ausgewertet und mit passenden praktischen Maßnahmen (z. B. Rückenschule am Arbeitsplatz, Stresskompetenztraining etc.) angegangen werden können, die im Betrieb relevant sind“, so Allmann.

    Die richtigen regionalen Ansprechpartner für BGM-Projekte liefert die bundesweite Initiative „Gesundheit im Betrieb selbst gestalten“, die vom Arbeitgeberverband deutscher Fitness- und Gesundheits-Anlagen und der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement initiiert wurde …

    Für die private Hochschule spielt die Verhältnisprävention also nicht einmal im unternehmensspezifischen Gesamtkonzept eine Rolle, obwohl sie gesetzlich vorgeschrieben ist. Bei solchen Hochschulen können Arbeitgeber (und Hersteller von Turngerätschaften) vermutlich die “arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse” bestellen, die sie zur Verdrängung unangenehmerer Aufgaben im gesetzlichen Arbeitsschutz benötigen.

    Die BGF kann durchaus verhaltenspräventive Beiträge gegen psychische Erkrankungen leisten, aber dabei den verhältnispräventiven Arbeitsschutz zu marginalisieren oder überhaupt nicht zu erwähnen, ist manipulative und irreführende Kommunikation. Wird hier ein Weg bereitet, der auch in Zukunft die straflose Missachtung der Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes ermöglichen soll?

    Erst kommt die Gefährdungsbeurteilung!

    Donnerstag, 14. April 2011 - 23:39

    2012-07-15:

    BAG, Beschluss vom 8.11.2011, 1 ABR 42/10

    Eine Arbeitgeberin wollte verhindern, dass eine Unterweisung ohne vorherige Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird. Das gelang ihr. Der Gesamtbetriebsrat verlor, aber das Urteil ist sehr hilfreich für Arbeitnehmervertreter, denn es bedeutet, dass allen Arbeitsschutzmaßnahmen eine Gefährdungsbeurteilung vorauszugehen hat. Die Unterweisung setzt eine Gefährdungsbeurteilung voraus, damit darin die in der Gefährdungsbeurteilung gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigt werden können.

    Jetzt führen viele Betriebe ein Gesundheitsmanagement ein und wollen damit auch den Arbeitsschutz rechtssicher machen. Gerne wird noch ein Zertifikat nach OHSAS 18001 besorgt, damit Berufsgenossenschaft und Gewerbeaufsicht milde gestimmt werden. Die Unternehmen zeigen ihre Einführungs-Projekte stolz vor und meinen, das könne bereits als Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes und der mit ihm verbundenen Vorschriften dargestellt werden. Solange diesen Maßnahmen aber keine mitbestimmt zustandegekommene Gefährdungsbeurteilung zugrunde liegen, sind das keine legitimen Arbeitsschutzmaßnahmen. Sollte versucht werden, Gesundheitsschutzmaßnahmen im Nachhinein als bereits implementierte Arbeitsschutzmaßnahmen zu darzustellen, müsste wohl auch überprüft werden, ob die Mitbestimmung behindert worden ist.

    Ein Auszug aus dem BAG-Beschluss (http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&nr=15760):

    16. Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei betrieblichen Regelungen über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen. Hierzu gehört auch die durch § 12 ArbSchG dem Arbeitgeber auferlegte Verpflichtung, die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu unterweisen (BAG 8. Juni 2004 – 1 ABR 13/03 – zu B I 2 b cc der Gründe mwN, BAGE 111, 36). Einigen sich die Betriebsparteien nicht über Art und Inhalt der Unterweisung, hat das die Einigungsstelle zu regeln. Hierbei hat sie die Erkenntnisse einer Gefährdungsbeurteilung (§ 5 ArbSchG) zu berücksichtigen und die konkrete arbeitsplatz- oder aufgabenbezogene Unterweisung daran auszurichten. Sie kann sich nicht darauf beschränken, allgemeine Bestimmungen über die Unterweisung zu Gefahren am Arbeitsplatz aufzustellen. Dies hat der Senat in einem Parallelverfahren mit denselben Verfahrensbevollmächtigten im Beschluss vom 11. Januar 2011 (- 1 ABR 104/09 – Rn. 17 ff., EzA BetrVG 2001 § 87 Gesundheitsschutz Nr. 5) im Einzelnen begründet. Hieran hält der Senat auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens der Rechtsbeschwerde fest.

    Parallelbeschlüsse des 1. Senats des BAG, ebenfalls 2011-01-08: 1 ABR 64/10, 1 ABR 14/11, 1 ABR 49/10, 1 ABR 1/11, 1 ABR 15/11, 1 ABR 13/11, 1 ABR 75/10, 1 ABR 80/10, 1 ABR 8/11

     


    2011-04-14:

    Anfang dieses Jahres fasste das Bundesarbeitsgericht einen für den Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz wichtigen Beschluss, nach dem die Arbeitnehmervertreter eines Unternehmens in dessen Betrieben Unterweisungen durchsetzen wollten, wie sie im Arbeitsschutz vorgeschrieben sind (§ 12 ArbSchG). Die Arbeitnehmervertreter erklärten (z.B. 3 TaBV 13/10, 4 BV 16/09, ArbG Chemnitz und 9 TaBV 39/10, 1 BV 33/09, ArbG Regensburg):

    Ziel der Unterweisung der Beschäftigten ist die Vermittlung von Kenntnissen über Belastungen und Beanspruchungen durch die Arbeit sowie Entlastungsmöglichkeiten, die Vermittlung des ergonomisch richtigen Umgangs mit Arbeitsmitteln, die Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumgebung im Sinne der menschengerechten Gestaltung der Arbeit. Es sollen Grundlagen dafür geschaffen werden, dass die Beschäftigen ihre Beteiligungsrechte und -pflichten nach §§ 15 – 17 ArbSchG wahrnehmen können.

    Das ist, was viele arbeitnehmerorientierte Berater heute beim Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz empfehlen.

    Der Forderung der Arbeitnehmervertreter hat das Bundesarbeitsgericht allerdings im Januar auf Betreiben der Arbeitgeberseite widersprochen (Beschluss 1 ABR 104/09, 2011-01-11).

    http://www.bundesarbeitsgericht.de/termine/januartermine.html (2011-04-14):

    1. O. GmbH & Co. oHG (RAe. CMS Hasche, Siegle, Köln)
    2. Betriebsrat der O. GmbH & Co oHG
    3. Gesamtbetriebsrat der O. GmbH & Co. oHG
    (zu 2) und zu 3) RAe. Bertelsmann und Gäbert, Hamburg) 

    - 1 ABR 104/09 -

    Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit des Spruchs einer Einigungsstelle*.

    Die Arbeitgeberin befasst sich in mehreren Betrieben mit der Herstellung, dem Einbau und der Wartung von Aufzügen, Fahrtreppen usf. Der Beteiligte zu 2) ist der Betriebsrat für den Betrieb der Region Berlin2/Brandenburg. Für diesen Betrieb wurde eine betriebsverfassungsrechtliche Einigungsstelle eingesetzt. Sie fasste zur “Umsetzung der Anforderungen des Arbeitsschutzgesetzes” am 30. April 2008 einen Spruch über Einzelheiten der in § 12 ArbSchG vorgesehenen Unterweisung der Beschäftigten. Der Beteiligte zu 3) ist der im Unternehmen gebildete Gesamtbetriebsrat.

    Die Arbeitgeberin hält den Spruch der Einigungsstelle für unwirksam. Sie ist der Auffassung, für die Ausübung des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG sei nicht der örtliche Betriebsrat sondern der Gesamtbetriebsrat zuständig. Überdies könne die Unterweisung der Arbeitnehmer nach § 12 ArbSchG erst geregelt werden, wenn zuvor die in § 5 ArbSchG vorgeschriebene “Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung” stattgefunden habe. Mehrere Bestimmungen des Teilspruchs stellten schließlich eine unzulässige Rahmenregelung dar, durch welche das Mitbestimmungsrecht nicht ausgeübt und der Streit der Beteiligten insoweit nicht beigelegt worden sei. Der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat sind der Ansicht, der Teilspruch der Einigungsstelle sei rechtswirksam.

    Das Arbeitsgericht hat den Antrag der Arbeitgeberin abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihm entsprochen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehren der Betriebsrat und der Gesamtbetriebsrat die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses.

    LAG Berlin-Brandenburg,

    Beschluss vom 19. Februar 2009 – 1 TaBV 1871/08 -

    * Nach § 76 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ist zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat bei Bedarf eine Einigungsstelle zu bilden, die aus einer gleichen Anzahl von Beisitzern des Arbeitgebers und des Betriebsrats und einem unparteiischen Vorsitzenden besteht. Kommt eine einvernehmliche Regelung nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle durch “Spruch”. Dieser “Spruch” kann vor dem Arbeitsgericht angefochten werden.

    Auf dem Weg zum BAG-Beschluss gab es gute und fachkundige Anwälte auf beiden Seiten, und viele Gerichte hatten viel Arbeit. Die Angelegenheit war also ziemlich wichtig.

    Inzwischen haben manche Betriebsräte es gelernt, die Gefährdungsbeurteilung als Voraussetzung für verschiedene Prozesse in den Betrieben zu durchzusetzen, aber hier griff nun die Arbeitgeberin diesen Ansatz auf und drehte den Spieß damit um: Ohne Gefährdungsbeurteilung keine Unterweisung. Der Arbeitgeberin war das Ziel der Unterweisung wohl zu breit angelegt. Das BAG stimmte dem im Januar 2011 zu:

    Pressemitteilung Nr. 1/11

    Unterweisung zum Arbeitsschutz

    Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei betrieblichen Regelungen über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen. Hierzu gehört auch die durch § 12 ArbSchG dem Arbeitgeber auferlegte Verpflichtung, die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu unterweisen. Einigen sich die Betriebsparteien nicht über Art und Inhalt der Unterweisung, hat das die Einigungsstelle zu regeln. Hierbei hat sie die Erkenntnisse einer Gefährdungsanalyse (§ 5 ArbSchG) zu berücksichtigen und die konkrete arbeitsplatz- oder aufgabenbezogene Unterweisung daran auszurichten. Sie kann sich nicht darauf beschränken, allgemeine Bestimmungen über die Unterweisung zu Gefahren am Arbeitsplatz aufzustellen.

    Eine zum Regelungsgegenstand „Umsetzung der Anforderungen des Arbeitsschutzes“ eingesetzte Einigungsstelle hatte durch Teilspruch allgemeine Regelungen zur Unterweisung der Beschäftigten über die Belastungen bei der Arbeit, den richtigen Umgang mit Arbeitsmitteln und die Gestaltung der Arbeitsorganisation getroffen. Eine Gefährdungsbeurteilung lag zum Zeitpunkt der Beschlussfassung nicht vor. Das hat die Arbeitgeberin beanstandet und den Teilspruch angefochten.

    Das Landesarbeitsgericht hat die Unwirksamkeit des Teilspruchs festgestellt. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte keinen Erfolg. Die Einigungsstelle ist ihrem Regelungsauftrag nicht nachgekommen. Ihr Spruch ist unvollständig. Es fehlte an konkreten Anweisungen und Erläuterungen, die eigens auf den Arbeitsplatz oder den Aufgabenbereich der Beschäftigten ausgerichtet waren.

    Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 ABR 104/09 -
    Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Februar 2009
    - 1 TaBV 1871/08

    Im Internet gab es dazu viele Kommentare. Mal sah es so aus, als habe die Arbeitgeberin gewonnen, mal wurde ein Sieg der Betriebsräte gesehen. Besonders interessant fand ich einen Eintrag im “Arbeitnehmeranwalt Stühler-Walters Blog“:

    … In Zukunft ist also für die Betriebsräte darauf zu achten, dass noch vor Verhandlungen zu Maßnahmen des Arbeitsschutzes zunächst eine konkrete Gefährdungsanalyse erfolgen muss. Aus meiner Sicht folgt aus dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, dass der Betriebsrat auch bei der Unterweisung mitzubestimmen hat, dass dieser auch bereits bei der Gefährdungsanalyse selber zu beteiligen ist. Erfolgt eine konkrete betriebliche Gefährdungsanalyse nicht, so hat dies zur Folge, dass möglicherweise eine gesamte Betriebsvereinbarung zum Arbeitsschutz unwirksam sein kann.

    Noch einige Hinweise:

    • Unterweisung: Vor einer Unterweisung muss klar sein, um welche Gefährdungen in einem Betrieb es konkret geht. Also kommt die Beurteilung vor der Unterweisung. Die von den Arbeitnehmervertretern beabsichtigte Aufklärung macht zwar Sinn, aber diese Grundlagen kann man zum Beispiel sehr gut mit Vorträgen kompetenter Fachleute in Betriebsversammlungen vermitteln. Unterweisungen vor Gefährdungsbeurteilungen werden durch den BAG-Beschluss nicht in Frage gestellt, wenn sie z.B. zur Vorbereitung von Umfragen benötigt werden, auf denen Gefährdungsbeurteilungen dann aufbauen.
    • Konzentration auf das Wesentliche: Betriebsräte, die den Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz voranbringen wollen, müssen sich zunächst mit aller Kraft und all ihren begrenzten Ressourcen auf  ihre Mitbestimmungspflicht (Gestaltungsimperativ) bei der Gefährdungsbeurteilung konzentrieren. Es wäre insbesondere unklug, wenn sich Betriebsräte über die Mitbestimmungsaufgaben hinausgehend  vom Arbeitgeber in die Details eines umfangreichen und komplexen Gesundheitsmanagements einbinden ließen, bevor es eine Beurteilung der betriebsspezifischen Risiken psychischer Fehlbelastungen gibt. Ohne eine solche Beurteilung fehlt dem Arbeitsschutz im Gesundheitsmanagement nämlich genau so die notwendige Grundlage, wie sie der Unterweisung ohne vorherige Gefährdungsbeurteilung fehlen würde.
    • Zusammenfassung von Arbeitsplätzen: Das BAG verlangt eine konkrete Beurteilung von Arbeitsplätzen im Betrieb. Unternehmen, die bei Gefährdungsbeurteilungen dadurch Kosten sparen wollen, dass sie nur wenige Gruppen von Arbeitsplätzen mit vielen Mitarbeitern pro Gruppe beurteilen, weil aus ihrer Sicht gleichartige Arbeitsbedingungen bestehen (§ 5 Abs. 2 ArbSchG), müssen in den entsprechenden Unterweisungen auch einen größeren Bereich der Thematik der psychisch wirksamen Belastung abdecken. Werden beispielsweise alle “Büroarbeitsplätze” zusammengefasst, muss die Beurteilung den unterschiedlichen Belastungen an diesen Arbeitsplätzen gerecht werden. Der BAG-Beschluss hilft Betriebsräten, den Arbeitgeber dazu anzuregen, bei der Festlegung der “Gleichartigkeit” von Arbeitsplätzen nicht zu weit zu gehen.
    • Gesundheitsmanagement: Ohne Gefährdungsbeurteilung kann ein Unternehmen nicht legitim erklären, dass ein “betriebliches Gesundheitsmanagement” den Arbeitsschutz mit einschlösse. Es scheint gelegentlich so, dass falsch herum begonnen wird: Erst wird mit werbewirksamen Maßnahmen die Kür versucht, dann erst kommt die Pflicht der Gefährdungsbeurteilung, obwohl ohne sie keine Arbeitsschutzmaßnahmen definiert und umgesetzt werden können.
      • Kür: Der Schwerpunkt liegt hier oft bei der Verhaltensprävention. Die Verhältnisprävention ist dagegen Pflicht. Im Rahmen eines umfassenden betrieblichen Gesundheitsmanagements können generell Maßnahmen im Bereich der psychischen Belastung und Beanspruchung so definiert und umgesetzt werden, dass ein Unternehmen sogar werbewirksam behaupten kann, dass es “über die gesetzlichen Vorschriften hinaus” ginge.
      • Pflicht: Aber ohne mitbestimmt erstellte Gefährdungsbeurteilungen erfüllen die Maßnahmen des Gesundheitsmanagements die Vorschriften des Arbeitsschutzes (sowie der Bildschirmarbeitsverordnung, der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge, des Sozialgesetzbuches usw.) noch lange nicht! Eine solche Maßnahme ist beispielsweise die Schulung von Führungskräften zum Thema der psychischen Belastung und Beanspruchung. Nach dem BAG-Beschluss ist nun klar, dass solche Schulungen ohne vorhergehende Gefährdungsbeurteilungen die Vorschriften des Arbeitsschutzes nicht erfüllen können.
        Arbeitnehmervertreter müssen darauf achten, dass vor der Verhaltensprävention die vorgeschriebene Verhältnisprävention kommt. Ganz in diesem Sinn ist auch der BAG-Beschluss: Eine korrekte Gefährdungsbeurteilung beschreibt vor der Unterweisung den Zustand der Arbeitsbedingungen. Das hilft zu vermeiden, dass Unterweisungen über den Umgang mit “auffälligen” Mitarbeitern (Verhaltensprävention und -modifikation individueller Mitarbeiter) die eigentlich geforderten Unterweisungen zur Vermeidung (durch Verhältnisprävention) von arbeitsbedingten Fehlbelastungen verdrängen.

    Einfach gesagt: In diesem Fall haben die Arbeitnehmervertreter nur insofern “verloren”, als dass einem Einspruch der Arbeitgeber stattgegeben wurde und nun die Arbeitnehmervertreter die Verfahrenskosten tragen müssen. (Ich vermute, dass hier eine Gewerkschaft geholfen hat.) Das war es wert, denn mit dem Beschluss des BAG können innovative Betriebsräte sehr gut leben.

     
    Anmerkung: In http://blog.psybel.de/unterweisung/ ist die Qualität der Unterweisung Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung, hier folgt die Gefährdungsbeurteilung also der Unterweisung. Das macht bei einem schon laufenden und zyklischen Arbeitsschutzprozess Sinn. Auch kann es nötig sein, schon vor der Gefährdungsbeurteilung Schulungen durchzuführen, wenn Gegenstand der Schulung die Gestaltung, Durchführung und Zielsetzung der Gefährdungsbeurteilung ist.

    Siehe auch: http://blog.psybel.de/arbeitsschutztraining-von-leitenden-angestellten/

    Widerstand gegen mitbestimmten Arbeitsschutz

    Mittwoch, 2. März 2011 - 16:55

    Es ist wichtig, die Position der Arbeitgeber zum Einbezug der psychisch wirksamen Belastungen in den Arbeitsschutz zu kennen und ihren Widerstand gegen die Mitbestimmung im Arbeitsschutz zu verstehen. Es scheint inzwischen so zu sein, dass dieser Widerstand vieler (nicht aller!) Unternehmen gegen den auf Arbeitsbedingungen fokussierenden Arbeitsschutz insbesondere in vier Formen auftritt:

    1. “Entbürokratisierung”.
    2. Strukturelle Verantwortungslosigkeit: Verlagerung von Verantwortung (und Haftungsrisiken) in die untersten Führungsebenen, ohne diese jedoch mitbestimmt mit geeigneten Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten auszustatten.
    3. Mißachtung von Vorschriften oder Verschleppung ihrer Umsetzung: Souveräne (weil offene und die Zurückhaltung der Aufsichtsbehörden nutzende) Mißachtung wichtiger Aufgaben des Arbeitsschutzes z.B. durch beharrliche Verschleppung des Einbezugs psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz. Konkret wehren sich viele Unternehmen insbesondere gegen den mitbestimmten Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung und in die vorgeschriebene Unterweisung der Mitarbeiter.
    4. Verkehrte Prioritäten im Gesundheitsmanagement: Versuch, über “betriebliches Gesundheitsmanagement” (BGM) und intensive “Kommunikation” der Unternehmer und ihrer Verbände (an Belegschaften, an Politiker, an die Öffentlichkeit und an sich selbst), den Fokus des Arbeitsschutzes von der Verhältnisprävention umzulenken auf die als fürsorglich und freiwillig darstellbare Verhaltensprävention mit Betonung der “Eigenverantwortung” der Mitarbeiter. In ihre Strategie des Agenda Setting konnten die Unternehmer auch das Bundesgesundheitsministerium unter Philip Rösler (FDP) erfolgreich mit einbinden.

    Mit diesen Ansätzen kann einerseits versucht werden, unerwünschte Bestimmungen des Arbeitsschutzes zu umgehen und die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer zu schwächen, andererseits kann ein Unternehmen mit einem werbewirksam gestalteten betrieblichen Gesundheitsmanagement behaupten, es ginge damit über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus. Mit diesem Trick nehmen Unternehmen auch an Wettbewerben teil, womit sie Engagement zeigen können ohne jedoch psychische Belastungen ausreichend mitbestimmt in den Arbeitsschutz einbeziehen zu müssen. Die Kür überdeckt die Pflicht.

    Wettbewerbe und Selbstdarstellung

    Die werbewirksame Teilnahme an Wettbewerben zur Ablenkung vor den ungeliebten Pflichten des Arbeitsschutzes ist natürlich auch für die Anbieter solcher Wettbewerbe ein Problem. Wie gehen sie damit um? Einerseits sollen sich Unternehmen einer bewertung durch Wettbewerbsanbieter unterwerfen. Andererseits sind sie auch zahlende Kunden dieser Wettbewerbsanbieter.

    Ein positives Beispiel für einen der eher verantwortungsvolleren Anbieter von Wettbewerben im Gesundheitsmanagement ist Great Place to Work® Deutschland (GPTW). Dieses Unternehmen bezieht Betriebsräte ein und fördert mit einem “Sonderpreis Gesundheit” den mitbestimmten Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung. Achten Sie also darauf, ob ein Unternehmen versucht, diesen Sonderepreis zu bekommen, denn im “Kulturaudit” von GPTW können Unternehmen selbst dann gute Noten bekommen, wenn sie die Regeln des Arbeitsschutzes missachten.

    Am Standard-Ranking von GPTW dürfen jedoch meines Wissens nach auch solche Unternehmen teilnehmen, die sich über das Recht stellen und psychisch wirksame Belastungen weder in die Gefährdungsbeurteilung noch in die Unterweisung mitbestimmt einbeziehen. Wenn GPTW glaubwürdig bleiben will, sollten diese Arbeitgeber nur dann an dem GPTW-Ranking teilnehmen dürfen, wenn es eine Betriebsvereinbarung gibt, die den Weg zur Einhaltung der Arbeitsschutz-Vorschriften messbar regelt. Solange Arbeitgeber es entgegen den Vorschriften vermeiden können, Mitarbeiter ordentlich über die Bedeutung der Verhältnisprävention und ihre Priorität im Arbeitsschutz zu unterrichten, haben Mitarbeiterbefragungen im GPTW-Stil nur eine beschränkte Aussagekraft.

    Die mir bekannten jüngsten Veranstaltungen zum Gesundheitsmanagement fallen hinter Anbieter von Wettbewerben zurück: In Tagungen zum Gesundheitsmanagement stellen sich Unternehmen werbewirksam dar. Die Mitbestimmung durch Arbeitnehmer, deren Vertretungen die eigentlichen Treiber dieser Thematik sind, wird entsprechend der Zielsetzung der Wirtschaftsverbände marginalisiert, nun auch mit Hilfe des Gesundheitsministers.