Unternehmerverband in der Defensive

Donnerstag, 26. Juli 2012 - 16:07

“Nichterwerbstätige deutlich anfälliger.” Die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände beginnt ausgerechnet mit einem der dümmsten Argumente der Arbeitgeber. Weil das aber noch nicht reicht, kommt “Arbeitgeber müssen mit »Samthandschuhen« vorgehen” dazu. Wir sehen hier, wie ein Arbeitgebervertreter denkt. (Es gibt jedoch auch Arbeitgeber, die mit dem Thema der psychischen Belastung besser umgehen können.)

Die Berichterstattung zur Kleinen Anfrage der Grünen hat die VhU etwas nervös gemacht. Zwei Tage nach dem Bericht “Vernachlässigte Psyche” im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung reagierte die VhU mit der folgenden Pressemeldung (mit meinen Kommentaren in eckigen Klammern):
(http://www.verbaende.com/news.php/Nichterwerbstaetige-deutlich-anfaelliger-Ueberreglementierter-Arbeitsschutz-hilft-hier-gar-nicht-Arbeitgeber-muessen-mit-Samthandschuhen-vorgehen?m=84901):

26.07.2012 09:59
Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V. (VhU)
Nichterwerbstätige deutlich anfälliger // Überreglementierter Arbeitsschutz hilft hier gar nicht // Arbeitgeber müssen mit “Samthandschuhen” vorgehen.

(Frankfurt am Main) – “Dass der Arbeitsausfall aufgrund psychischer Erkrankungen stark zugenommen hat, hat viele Gründe. Diese sind häufig in der Privatsphäre und nicht beim Arbeitgeber zu suchen. [Argumentationsmuster 1: Psychische Störungen häufig im Privatleben. Richtig: Das Privatleben spielt eine Rolle. Falsch ist aber die Implikation, das psychischer Fehlbelastungen am Arbeitsplatz unbedeutend seien. Außerdem meint z.B. die Berufsgenossenschaft ETEM: "Andere Belastungsquellen wirken aus der Freizeit in die Arbeit hinein: aus dem Privatleben (Familie, Freunde), aus nebenberuflicher Betätigung (z.B. Verein) sowie aus den Problemen von Nachbarschaft, Kommune und Gesellschaft (siehe Außenkreis des Modells). Arbeits- und Freizeitbelastungen lassen sich in ihren Wirkungen heute noch nicht völlig trennen. Studien belegen aber, dass die Arbeitsbelastungen das Privatleben nachhaltiger stören als umgekehrt!"] Und deshalb ist auch der Ruf der Gewerkschaften nach mehr Kontrolle der Unternehmen durch den staatlichen Arbeitsschutz oder eine Antistress-Verordnung verfehlt”, sagte Dr. Werner Scherer, VhU-Geschäftsführer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung habe sich die Zahl der registrierten Krankheitstage aufgrund von seelischen Störungen seit 1997 um 80 Prozent auf 53,5 Millionen Arbeitstage erhöht. Gleichzeitig habe die erfolgreiche Entwicklung beim Arbeitsschutz dazu geführt, dass Arbeitsunfälle wie auch Erkrankungen aufgrund von Herz-Kreislauf-Beschwerden oder im Muskel-/Skelettbereich deutlich abgenommen hätten. Heute werde auch besser diagnostiziert: “Was früher lange Zeit als chronisches Rückenleiden behandelt wurde wird heute nicht selten und frühzeitig als “Burnout” oder gar Depression identifiziert und behandelt.” [Argumentationsmuster 2: Psychische Erkrankungen nehmen wegen besserer Diagnosemöglichkeiten zu. Richtig: Bisher unerkannte psychische Erkrankungen werden nun häufiger entdeckt. Dazu kommt noch die Enttabuisierung. Falsch (weil unlogisch) ist, daraus abzuleiten, heute werde das Thema der psychischen Erkrankungen übertrieben. Auch Asbestvergiftungen, Asbestvergiftungen "namen zu", als sie thematisiert und besser verstanden wurden.]

“Nach einer Studie der TU München informieren gerade einmal 16 Prozent der berufstätigen Patienten ihren Vorgesetzten darüber, dass sie psychische Probleme haben. Das erschwert natürlich einen frühzeitigen und zielgerichteten Einsatz spezifischer Personalinstrumente. Die Betroffenen sind gut beraten, sich frühzeitig dem Vorgesetzten oder dem Werksarzt anzuvertrauen, umso eher und besser kann ihnen geholfen werden”, erläuterte Scherer. [Die Betroffenen können auch von Betriebsräten, Personalräten oder ihrer Gewerkschaft gut beraten werden.]

Wären psychische Erkrankungen in erster Linie beruflich veranlasst, würden sie bei Erwerbstätigen häufiger auftreten als bei Rentnern, Studenten oder Nichterwerbstätigen. [Argumentationsmuster 3: Wenn A der Grund für K wäre, dann folgt aus ¬A der Schluss ¬K. Da die im zweiten Teilsatz beschriebene Situation aber nicht beobachtet werde, sei der erste Teilsatz falsch. Richtig könnte das (muss es aber nicht) sein, wenn K ausschließlich von A abhängig wäre. Es wirken aber noch andere Einflussfaktoren auf A. Falsch ist es darum, dieses Argimentationsmuster so zu verwenden, wie die Arbeitgeber das tun. (Eigentlich ist das nicht nur falsch, sondern unredlich.)] Das ist aber nicht der Fall! Im Gegenteil: Der Anteil psychisch bedingter Krankengeldtage ist z.B. bei Empfängern von Arbeitslosengeld I mit 31 Prozent viel höher als bei Arbeitnehmern mit 18 Prozent. Und bei Arbeitsaufnahme verbessert sich in der Regel der Gesundheitszustand des Betroffenen, wie Untersuchungen belegen. 35 bis 45 Wochenstunden Arbeit stehen 120 Wochenstunden Freizeit gegenüber. [ca. 40h Arbeit, 50h Schlaf, 15h Essen+Körperpflege, 60h Sonstiges. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass ein schlechter Job schlimmer sein kann, als Arbeitslosigkeit.] Kein Wunder, dass es häufig Probleme aus der Privatsphäre sind, wie z.B. in der Familie, in der Schule der Kinder oder sonst im privaten Umfeld, die natürlich am Werkstor nicht abgeschüttelt werden und sich deshalb auch bei der Arbeit auswirken”, so der VhU-Geschäftsführer. [Kein Wunder, dass es häufig Probleme aus der Arbeitsleben sind, die natürlich an der Haustür nicht abgeschüttelt werden und sich deshalb auch auf das Privatleben auswirken.]

Keinesfalls helfe da der Ruf nach stärkeren Kontrollen [Bundestagsdrucksache 17/10229] und mehr gesetzliche Regulierung “gegen Stress” ["Anti-Stress-Verordnung"] weiter. Andererseits trage der Arbeitnehmer auch eine Eigenverantwortung: Durch gesunde Lebensführung, ausgewogene Lebensführung und viel Bewegung könne er selbst präventiv für eine gute Balance von Körper und Psyche sorgen. [Argumentationsmuster 4: Eigenverantwortung. Seit 1996 kommt die Mehrheit der Arbeitgeber ihrer unternehmerischen Eigenverantwortung (z.B. Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz) nicht nach, will aber von den Mitarbeitern Eigenverantwortung sehen. Chuzpe vom Feinsten!] Auch in der Bildschirmarbeitsplatzverordnung sind psychische Belastungen ein Thema [Dem widerspricht keiner. Aber die Einhaltung muss wegen zu häufiger Missachtung des § 3 der Bildschirmarbeitsverordnung nun härter kontrolliert werden.] Der Arbeitgeber hingegen müsse bei psychischen Erkrankungen “mit Samthandschuhen” vorgehen. [Blödsinn.]

Lücken im System des deutschen Arbeitsschutzes gebe es in Bezug auf die psychische Gesundheit nicht, so Scherer: “Schon heute muss der Arbeitgeber laut Arbeitsschutzgesetz ja auch prüfen, ob sich eine Gefährdung aus der Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitszeit ergibt. [Argumentationsmuster 5: Das Gesetz reicht. Richtig: Scherer sagt zunächst die Unwahrheit, da die Lücken inzwischen auch von Afsichtsbeamten öffentlich kritisiert werden. Dann lenkt er mit dem Hinweis, der Arbeitgeber müsse laut Arbeitsschutzgesetz ja auch prüfen, ob sich eine Gefährdung aus der Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitszeit ergibt, davon ab, dass die Mehrheit der Arbeitgeber eben nicht in der vorgeschriebenen weise prüft. Scherer weiß natürlich, warum er das weitgehende Fehlen einer Kontrolle des Einbezugs psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz der Unternehmen nicht als Lücke im Arbeitsschutz gelten lässt.] Auch in der Bildschirmarbeitsplatzverordnung sind psychische Belastungen ein Thema. [Dem widerspricht keiner. Aber die Einhaltung muss wegen zu häufiger Missachtung des § 3 der Bildschirmarbeitsverordnung nun härter kontrolliert werden.] wie auch in der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie als einer von drei Fokusbereichen [Bei Bildschirmarbeitsplätzen: Belastungen von Augen, Körper, Psyche]. Auf die Umsetzung kommt es an [richtig], bei der sich die Unterstützung der Betriebe durch ihre Werksärzte wie auch durch Berufsgenossenschaften und Krankenkassen bewährt hat. [Wenn nur 20% der Betriebe psychische Belastungen in der Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigen, dann haben in 80% der Betriebe die Betriebsärzte in diesem Punkt versagt, denn die Gefährdungsbeurteilung ist eine der gesetzlichen Grundlagen ihrer Arbeit. Die Mehrzahl der Betriebsärzte ist aber gegen unvollständige Gefährdungsbeurteilungen nicht vorgegangen.] Mehr gesetzliche Vorgaben aber führen nur zu mehr Bürokratie, bringen uns aber in der Sache selbst nicht voran. [Argumentationsmuster 6: Es gibt zu viel Bürokratie. Zu Beaufsichtigende mögen natürlich Aufsichtsbehörden nicht so sehr. Ob ich mit Scherer übereinstimme, dass mehr gesetzliche Vorschriften nicht helfen, weiß ich nicht so recht. Wenn die Mitglieder seiner Vereinigung sich an die Vorschriften gehalten hätten, dann müssten wir heute vielleicht nicht über eine "Anti-Stress-Verordnung" nachdenken. Leider haben zu viele Arbeitgeber die Freiheiten, die das 1996 entbürokratisierte Arbeitsschutzrecht brachte, mit einer Aufforderung zum Nichtstun verwechselt. Sie sind ihrer unternehmerischen Eigenverantwortung nicht gerecht geworden. Wenigstens das wissen wir nun.]

Quelle und Kontaktadresse:
Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V. (VhU)
Dr. Ulrich Kirsch, Leitung, Presse und Kommunikation
Emil-von-Behring-Str. 4, 60439 Frankfurt am Main
Telefon: (069) 95808-0, Telefax: (069) 95808-126
E-Mail: UKirsch@vhu.de
Internet: http://www.vhu.de
(dvf, rf)

Wir sind hier wieder einigen bekannten (inzwischen wenig originellen) Argumentationsmustern begegnet. Das wird wohl auch noch in Zukunft passieren. Darum ist jetzt eine konsequentere Aufsicht erforderlich. Vorschriften sind ganz klar der stärkste Motivator im Arbeitsschutz.


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