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Sarah Kempf schreibt über psychische Belastung: ver.di Umfrage

Sonntag, 15. November 2015 - 23:43

2. November 2015, Von Sarah Kempf,

Belastung am Arbeitsplatz
Jeder fünfte Arbeitnehmer fühlt sich überfordert

Eine Anti-Stress-Verordnung müsse her, fordern Gewerkschaften. Dabei liegt das Problem wohl nicht nur im Job.

Sarah Kempf arbeitet sich an der nicht existierenden Behauptung der Gewerkschaften ab, dass das Problem nur am Job läge. (http://www.sueddeutsche.de/karriere/belastung-am-arbeitsplatz-jeder-fuenfte-arbeitnehmer-fuehlt-sich-ueberfordert-1.2732094):

[...] Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte die Forderung [nach einer Anti-Stress-Verordnung] unterstützt und gesagt, es gebe einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme an psychischen Erkrankungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte dem Gesetz im vergangenen Herbst aber vorerst eine Absage erteilt.

“Platte Behauptung”

Die Arbeitgeber dürfte das gefreut haben. Sie wollen, dass betriebliche Schutzmaßnahmen freiwillig bleiben. Dass Arbeitsstress die Ursache für psychische Krankheiten sein soll, bezeichnete Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft VBW, als “platte Behauptung”. [...]

Anlass des Berichts sind wohl u.A. die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung durch TNS Infratest im Rahmen der ver.di-Aktionswoche 9.-13. November 2015 im Rahmen der Aktionswoche “Gute Arbeit ohne Druck” (2011-11-09). Es gibt dazu auch ein Artikel im Handelsblatt (2015-11-09), an dem sich die Süddeutsche Zeitung ein Beispiel nehmen könnte. Es gibt auch ein Beispiel für eine sehr gut recherchierte Berichterstattung in der SZ zum Thema der psychischen Belastung (Thomas Öchsner, 2012-07-24.)

  • Sara Kempf’s kleinerer Fehler: Eine Verordnung ist kein Gesetz.
  • Der größere Fehler ist, den Eindruck zu erwecken, dass die die Gewerkschaften die Ursache psychischer Krankheiten (nur) dem Arbeitsstress zugeordnen würden. Hier wird eristisch versucht, eine Behauptung zu widerlegen, die weder die Gewerkschaften noch Andrea Nahles machten. Auch Arbeitsschutzakteure verorten die Ursachen für psychische Erkrankungen in der Bevölkerung nicht ausschließlich in der Arbeitswelt. Es ist doch klar, dass psychische Erkrankungen eine Vielzahl von Ursachen haben können. Nur wurde der Bereich der arbeitsbedingten psychischen Belastungen seit 1997 in gesetzeswidriger Weise vernachlässigt. Das unzureichende Prüfungen ein Grund dafür sind, berichtete die Süddeutsche Zeitung schon im Juli 2012 (Thomas Öchsner, s.o.).
  • Sarah Kempf schreibt: Die Arbeitgeber “wollen, dass betriebliche Schutzmaßnahmen freiwillig bleiben.” Das ist der größte Fehler. Seit 1997 sind betriebliche Schutzmaßnahmen zur Vermeidung jeder Art von arbeitsbedingter Gesundheitsverschlechterung längst nicht mehr freiwillig, sondern sie sind verpflichtend im Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben.

Dass ein signifikanter Anteil psychischer Erkrankungen arbeitsbedingt ist, haben die Arbeitgeber längst begriffen. Das Problem: Wegen des in einer spürbar veränderten Arbeitswelt aus psychischen Fehlbelastungen resultierenden wirtschaftlichen Schadens möchten die Unternehmen derartige Fehlbelastungen zwar durchaus mindern, aber mit möglichst wenig Mitbestimmung und möglichst geringem Haftungsrisiko.

Hier bremsen die Rechtsabteilungen der Unternehmen ihre Arbeitsschutzbeauftragten und ihre HR-Abteilungen, denn um die von arbeitsbedingten psychische Belastungen verursachte Beanspruchung der Mitarbeiter zu verstehen, müssten psychische Belastungen zwar besser erfasst und beurteilt werden, als das bisher der Fall ist, aber solch eine Dokumentation könnte auch Haftungsansprüche der Arbeitnehmer begründen. Darum versuchen selbst nach OHSAS 18001 zertifizierte Betriebs, gegenüber ihren Mitarbeitern ihre Selbstverpflichtung zu verstecken, für den Arbeitsschutz relevant Vorfälle in zwölf Kategorien zu erfassen und zu beurteilen.

Zudem kann die offene und transparente Thematisierung psychischer Belastungen zu Diskussionen über Führungstile führen, an die sich Arbeitgeber möglicherweise nicht allzu bereitwillig gewöhnen möchten. Es geht hier an’s Eingemachte.

Sahra Kempf ist es (im Gegensatz zu Thomas Öchsner, s.o.) nicht aufgefallen, dass bis 2012 die große Mehrheit der Unternehmen sich für die vorgeschriebene Beurteilung psychischer Belastungen nicht interessiert hatte. Eine Journalisten sollte sich vielleicht doch ein bisschen aktiver für den Rechtsbruch interessieren, an den sich auch die Gewerbeaufsicht gewöhnt hatten. (Es gibt Zertifizierungsauditoren, die das tolerieren.)

Vor diesem Hintergrung lassen sich die Forderungen nach einer Anti-Stress-Verordnung leichter verstehen. Ob die Schlussfolgerung, dass hier eine Verordnung helfen lönnte, richtig ist, ist eine andere Frage. Es gab ja seit 1997 ein Gesetz über den ganzheitlichen Arbeitsschutz. Ohne eine Rückkehr zu Recht und Ordnung im Arbeitsschutz und im behördlichen Aufsichtshandeln würden den Arbeitgebern Verstöße gegen eine Anti-Stress-Verordnung genauso großzügig gestattet, wie die Verstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz.