Schlagwort 'Süddeutsche Zeitung'

Außer Kontrolle

Mittwoch, 26. April 2017 - 05:59

Markus Balser schrieb in seinem Kommentar “Außer Kontrolle” in der Süddeutschen Zeitung (2017-04-25, S. 4):

Keine einzige [Regierung] hat ihre Kontrollsysteme grundlegend überarbeitet. Die Autoindustrie macht damit in diesen Wochen vor, wie Schwindel und Tricksereien im großen Stil ungestraft funktionieren.

Am Abgasskandal können wir sehen, dass das Aufsichtswesen in Deutschland tatsächlich eine Kumpanei von Politik und Autobranche zulässt. Selbst nachdem das offensichtlich zutage trat:

Die Kumpanei von Politik und Autobranche geht einfach weiter.

Kuschelt die Politik nur mit der Autobranche? Die Politik bestimmt nicht nur beim Kraftfahr-Bundesamt, wie milde Prüfer vorgehen sollten, sondern kann auch den Prüfern der Gewerbeaufsichten Hinweise geben, wie freundlich systemwichtige Unternehmen zu behandeln sind.

Spätestens im Jahr 2005 war nach einem Beschluss der Bundesarbeitsgerichts klar, dass alle Arbeitgeber die Pflicht haben, zu den psychischen Belastungen, die von den Arbeitsbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen aines Betriebes ausgehend auf die in dem Betrieb Beschäftigten wirken, hinsichtlich möglicher Gefährdungen der psychischen Gesundheit zu beurteilen.

Der Staat erlaubt nicht nur der Autoindustrie, Schutzvorschriften zu ignorieren: Im Jahr 2012 wurde im Bundesestag klar, dass etwa 80% der Betriebe in Deutschland keine Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen durchführten.

Kürzlich wieder besuchte die Gewerbeaufsicht irgendwo in Deutschland einen großen Betrieb, in dem hunderte Mitarbeiter bei einer externen Befragung angaben, dass der Schutz ihrer psychischen Gesundheit nicht gewährleistet sei. Aber anstatt nachzuforschen, wie dieses Misstrauen der Mitarbeiter zu erklären ist, lobt die Gewerbeaufsicht ein Pilotprojekt zur Gefährdungsbeurteilung, mit dem vor Jahren Daten zur Belastung der Mitarbeiter erhoben wurden, deren Auswertung ziemlich schleppend verlief. Es gibt darüber hinaus im Arbeitsschutzmanagementsystem des Unternehmens kein reguläres Verfahren zur Beurteilung psychischer Belastungen. Auch ganz einfach zu erkennende Vorfälle psychischer Fehlbelastungen werden nicht einmal gemäß den internen Standards des Unternehmens erfasst und beurteilt. Ein privates Auditunternehmen, das die Einhaltung dieser Standards prüft, bestätigt den Betrieben der Firma trotzdem, dass das Arbeitsschutzmanagementsystem vollständig sei.

Die Gewerbeaufsicht und das Unternehmen jammern gemeinsam über die Komplexität des Themas, obwohl beide wissen, dass der Betriebsrat schon im Jahr 2008 Zweifel daran angemeldet hatte, dass die psychische Gesundheit in den Betrieben des Unternehmens ausreichend geschützt sei. Seit dieser Zeit wurden in dem Unternehmen viele andere komplexe Aufgaben bewältigt, unter anderem ein Leistungsbeurteilungsprozess. Aber einen regulären Prozess für Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen gibt es immer noch nicht.

Die Gewerbeaufsicht zeigt Verständnis für das Unternehmen: Ein Grund für die Komplexität der Beurteilung psychischer Belastungen sei, dass die Menschen individuell unterschiedlich auf Belastungen reagierten. Hier zeigen nun Gewerbeaufsicht und das milde geprüfte Unternehmen gemeinsam, dass sie unsere verhältnispräventiv angelegten Arbeitsschutzvorschriften bis heute nicht verstanden haben. Bei der verhältnispräventiv orientierten Beurteilung der von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen ausgehenden und auf die Mitarbeiter wirkenden psychischen und psychischen Belastungen spielen individuelle Unterschiede bei den Reaktionen auf die Belastungen nämlich gar keine Rolle.

Ein Arbeitsplatz ist keine Person. Es müssen darum keine personenbezogenen Daten erhoben werden, mit denen man eine Gefährdungsbeurteilung von Arbeitsplätzen (d.h. von Prozessen, Arbeitsmitteln, Arbeitsbedingungen, Software usw.) zu einer Geheimsache machen kann, was Arbeitgeber trotzdem immer wieder gerne versuchen. Im Arbeitsschutz kommen Arbeitsplätze auf die Couch, nicht die Mitarbeiter.

Aufsichtslaxheit

Freitag, 20. November 2015 - 02:20

http://www.sueddeutsche.de/karriere/unethische-anweisungen-mitgefangen-mitgehangen-1.2732753

13. November 2015, 18:52 Uhr
Unethische Anweisungen
Mitgefangen, mitgehangen

Wie man sich wehrt, wenn der Chef zu verstecktem Pfusch oder gar unverhohlenem Betrug auffordert. Die Einführung von Compliance-Vorgaben würde Klarheit schaffen.

Von Christine Demmer

Dass die Abgasmanipulationen bei Volkswagen von einem Ingenieur aus dem eigenen Unternehmen ans Licht gebracht wurden, hat manchen Berufskollegen zum Nachdenken gebracht: Was würde ich tun, wenn man mich anweist, etwas Strafbares zu tun, was ich nicht tun will?

Nicht nur Ingenieure bringt das in eine echte Zwickmühle. Felix Brodbeck sieht darin einen klaren Fall von Befehlsnotstand. “Das kommt vom Kostendruck und vom Starren auf die Quartalsergebnisse und daher, dass sich in vielen Branchen eine gewisse Aufsichtslaxheit breitgemacht hat”, sagt der Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). [...]

Ich bezweifle, ob Compliance-Vorgaben reichen. Dazu müssen Handlungsmöglichkeiten kommen, die angstfrei wahrgenommen werden können. Compliance-Abteilungen kämpfen nicht für ethische Sauberkeit im Unternehmen, sondern ihr Hauptaufgabe ist, dem Top-Management Gefängnisaufenthalte zu ersparen. Es geht vorwiegend um nüchtern kalkulierendes Risikomanagement, mit dem so viel Verantwortung wie möglich in untere Führungsebenen verlagert wird, oft aber nicht mit genügend Handlungsmöglichkeiten. Die mit dem Risiko begründeten Einkommensanteile des Top-Managements bleiben natürlich beim Top-Management.

Nun zur Aufsichtslaxheit: Man findet sie nicht nur beim Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), sondern auch die interne und externe Auditoren bei der angeblichen Selbstkontrolle des VW-Konzerns müssen zu unkritisch gewesen sein.

Bei den externen Zertifizierungsauditoren sah wohl die Deutsche Akkteritierungsstelle (DAkkS) nicht allzu kritisch hin. Ich mache sie für die Aufsichtslaxheit der Zertifizierungsauditoren mitverantwortlich. Das ist kein Wunder, denn im Gegensatz zum KBA ist bei der DAkkS die Lobby sogar ganz offiziell eingebaut. Die DAkkS wird

  • zu einem Drittel vom Wirtschaftsministerium kontrolliert,
  • zu einem weiteren Drittel vom BDI und
  • zum letzten Drittel von den Bundesländern.

Die DAkkS-GmbH als halbstaatliche Organ soll Zertifizierungsauditoren beaufsichtigen, z.B. für Audits nach den Normen ISO 9001 (Mindestanforderungen an ein Qualitätsmanagementsystem), ISO 14001 (Umweltschutzmanagementsysteme), OHSAS 18001 (Arbeitsschutzmanagementsysteme) und ISO 50001 (Energiemanagementsysteme).

Die DakkS ist die halbprivatisierte Aufsicht der voll privatisierten Aufsicht. Das Zertifizierungsgschäft ist jedoch eine ziemliche Farce, siehe auch: Insider packt aus - Falschspiel im Zertifizierungsgeschäft.

Für sicherheitsrelevante elektrische/elektronische Systeme in Kraftfahrzeugen richtet sich VW nach der Norm ISO 26262. Da geht es zwar nicht so sehr um Schadstoffemissionen, aber um sichere Software (die man “Firmware” nannt, wenn sie fest in Steuersysteme eingebaut ist.) Hier muss also auch das Defeat Device geprüft worden sein. Wenn sie Auditierte und Auditoren aber zu nahe stehen, stellt keiner mehr wirklich kritsche Fragen.

Bei VW hat die private und behördliche Aufsich in einem Bereich versagt, in dem Abweichung zweifelsfrei erkennbar gewesen wären, wenn die Aufsicht und die Auditoren nur genauer hingesehen hätten. Wie sieht es dann ers in einem schwieriger beurteilebaren Bereich aus, wie dem Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Da faselte eine Ursula von der Leyen von strengen Strafen, aber in den 80% der Betriebe, die sich bis 2012 erfolgreich ihrer Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen entziehen konnten, wurde seit 1997 kein einziger Verantwortlicher bestraft.

Die Aufsichtslaxheit ist politisch gewollt. So wie das KBA bei VW im Abgasskandal, tragen die Gewerbeaufsichten und die sie beeinflussenden Politiker einen großen Teil der Verantwortung für den Erfolg der Unternehmen bei ihrem Unterfangen, das Thema psychische Belastung am Arbeitsplatz möglichst weit aus den Betrieben herauszuhalten.

Sarah Kempf schreibt über psychische Belastung: ver.di Umfrage

Sonntag, 15. November 2015 - 23:43

2. November 2015, Von Sarah Kempf,

Belastung am Arbeitsplatz
Jeder fünfte Arbeitnehmer fühlt sich überfordert

Eine Anti-Stress-Verordnung müsse her, fordern Gewerkschaften. Dabei liegt das Problem wohl nicht nur im Job.

Sarah Kempf arbeitet sich an der nicht existierenden Behauptung der Gewerkschaften ab, dass das Problem nur am Job läge. (http://www.sueddeutsche.de/karriere/belastung-am-arbeitsplatz-jeder-fuenfte-arbeitnehmer-fuehlt-sich-ueberfordert-1.2732094):

[...] Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte die Forderung [nach einer Anti-Stress-Verordnung] unterstützt und gesagt, es gebe einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme an psychischen Erkrankungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte dem Gesetz im vergangenen Herbst aber vorerst eine Absage erteilt.

“Platte Behauptung”

Die Arbeitgeber dürfte das gefreut haben. Sie wollen, dass betriebliche Schutzmaßnahmen freiwillig bleiben. Dass Arbeitsstress die Ursache für psychische Krankheiten sein soll, bezeichnete Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft VBW, als “platte Behauptung”. [...]

Anlass des Berichts sind wohl u.A. die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung durch TNS Infratest im Rahmen der ver.di-Aktionswoche 9.-13. November 2015 im Rahmen der Aktionswoche “Gute Arbeit ohne Druck” (2011-11-09). Es gibt dazu auch ein Artikel im Handelsblatt (2015-11-09), an dem sich die Süddeutsche Zeitung ein Beispiel nehmen könnte. Es gibt auch ein Beispiel für eine sehr gut recherchierte Berichterstattung in der SZ zum Thema der psychischen Belastung (Thomas Öchsner, 2012-07-24.)

  • Sara Kempf’s kleinerer Fehler: Eine Verordnung ist kein Gesetz.
  • Der größere Fehler ist, den Eindruck zu erwecken, dass die die Gewerkschaften die Ursache psychischer Krankheiten (nur) dem Arbeitsstress zugeordnen würden. Hier wird eristisch versucht, eine Behauptung zu widerlegen, die weder die Gewerkschaften noch Andrea Nahles machten. Auch Arbeitsschutzakteure verorten die Ursachen für psychische Erkrankungen in der Bevölkerung nicht ausschließlich in der Arbeitswelt. Es ist doch klar, dass psychische Erkrankungen eine Vielzahl von Ursachen haben können. Nur wurde der Bereich der arbeitsbedingten psychischen Belastungen seit 1997 in gesetzeswidriger Weise vernachlässigt. Das unzureichende Prüfungen ein Grund dafür sind, berichtete die Süddeutsche Zeitung schon im Juli 2012 (Thomas Öchsner, s.o.).
  • Sarah Kempf schreibt: Die Arbeitgeber “wollen, dass betriebliche Schutzmaßnahmen freiwillig bleiben.” Das ist der größte Fehler. Seit 1997 sind betriebliche Schutzmaßnahmen zur Vermeidung jeder Art von arbeitsbedingter Gesundheitsverschlechterung längst nicht mehr freiwillig, sondern sie sind verpflichtend im Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben.

Dass ein signifikanter Anteil psychischer Erkrankungen arbeitsbedingt ist, haben die Arbeitgeber längst begriffen. Das Problem: Wegen des in einer spürbar veränderten Arbeitswelt aus psychischen Fehlbelastungen resultierenden wirtschaftlichen Schadens möchten die Unternehmen derartige Fehlbelastungen zwar durchaus mindern, aber mit möglichst wenig Mitbestimmung und möglichst geringem Haftungsrisiko.

Hier bremsen die Rechtsabteilungen der Unternehmen ihre Arbeitsschutzbeauftragten und ihre HR-Abteilungen, denn um die von arbeitsbedingten psychische Belastungen verursachte Beanspruchung der Mitarbeiter zu verstehen, müssten psychische Belastungen zwar besser erfasst und beurteilt werden, als das bisher der Fall ist, aber solch eine Dokumentation könnte auch Haftungsansprüche der Arbeitnehmer begründen. Darum versuchen selbst nach OHSAS 18001 zertifizierte Betriebs, gegenüber ihren Mitarbeitern ihre Selbstverpflichtung zu verstecken, für den Arbeitsschutz relevant Vorfälle in zwölf Kategorien zu erfassen und zu beurteilen.

Zudem kann die offene und transparente Thematisierung psychischer Belastungen zu Diskussionen über Führungstile führen, an die sich Arbeitgeber möglicherweise nicht allzu bereitwillig gewöhnen möchten. Es geht hier an’s Eingemachte.

Sahra Kempf ist es (im Gegensatz zu Thomas Öchsner, s.o.) nicht aufgefallen, dass bis 2012 die große Mehrheit der Unternehmen sich für die vorgeschriebene Beurteilung psychischer Belastungen nicht interessiert hatte. Eine Journalisten sollte sich vielleicht doch ein bisschen aktiver für den Rechtsbruch interessieren, an den sich auch die Gewerbeaufsicht gewöhnt hatten. (Es gibt Zertifizierungsauditoren, die das tolerieren.)

Vor diesem Hintergrung lassen sich die Forderungen nach einer Anti-Stress-Verordnung leichter verstehen. Ob die Schlussfolgerung, dass hier eine Verordnung helfen lönnte, richtig ist, ist eine andere Frage. Es gab ja seit 1997 ein Gesetz über den ganzheitlichen Arbeitsschutz. Ohne eine Rückkehr zu Recht und Ordnung im Arbeitsschutz und im behördlichen Aufsichtshandeln würden den Arbeitgebern Verstöße gegen eine Anti-Stress-Verordnung genauso großzügig gestattet, wie die Verstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz.

Thematisierung des Arbeitsschutzes in den Medien

Samstag, 24. August 2013 - 19:46

Heute hat die Süddeutsche Zeitung im Wirtschaftsteil auf fast zwei Seiten über die Verhinderung arbeitsbedingter Erkrankungen geschrieben und es dabei tatsächlich wieder einmal geschafft, den Arbeits- und Gesundheitsschutz fast völlig zu ignorieren. Das ist in den Medien der Normalfall: Die Unternehmen haben es offensichtlich geschafft, mit einem in der Praxis eben doch überwiegend verhaltenspräventiv angelegten “Gesundheitsmanagement” ihre eher ablehnende Haltung zum vorgeschriebenen verhältnispräventiv orientierten Arbeits- und Gesundheitsschutz verschleiern zu können. Die damit verbundene beharrliche Missachtung des Arbeitsschutzgesetzes ist in den Medien kaum ein Thema. (Ich hoffe, dass sich die Initiative Nachrichtenaufklärung oder dgl. einmal näher mit diesem Problem befassen wird.)

Auch gibt es da noch die “Gesundheitsförderung”. Jetzt bin ich einmal derjenige, der hier nicht im Detail darauf eingeht. Suchen Sie selbst. Was das Herz der Journalisten aber vielleicht höher schlagen lassen könnte, wären Reibungsflächen zwischen dem FDP-Gesundheitsministerium (vorwiegend verhaltenspräventive betriebliche Gesundheitsförderung usw.) und dem CDU-Arbeitsministerium (verhältnispräventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz).

Ehe ich mich nun weiter über Journalisten beschwere, die komplexen Themen ausweichen, weise ich zur Abwechselung einfach einmal auf ein Beispiel für eine gelungene Thematisierung eines großen Problems im Arbeitsschutzes hin: Die Überforderung der Gewerbeaufsicht. Das Kompliment für gute journalistische Arbeit geht an Thomas Öchsner, ebenfalls von der Süddeutschen Zeitung. Hinweise auf seinen Artikel finden Sie unter dem Stichwort “Bundestagsdrucksache 17/10229″.

Siehe auch: http://wanderseminar.wordpress.com/gesundheit-im-job-grose-unternehmen-werden-aktiv-doch-was-machen-die-kleinbetriebe/

Abschalten dürfen im BMAS

Donnerstag, 21. Februar 2013 - 20:15

In http://www.sueddeutsche.de/karriere/arbeitszeitregeln-im-arbeitsministerium-aussen-hui-innen-pfui-1.1605704 und auf der ersten Seite der gedruckten SZ beobachtet Thomas Öchsner, dass auch Ursula von der Leyens eigene Mitarbeiter nicht immer erreichbar sein wollen.

Firmen sollen Burn-out bekämpfen

Dienstag, 30. Oktober 2012 - 20:29

http://www.sueddeutsche.de/karriere/seelische-gesundheit-in-unternehmen-firmen-sollen-burn-out-bekaempfen-1.1510394

Seelische Gesundheit in Unternehmen
Firmen sollen Burn-out bekämpfen

30.10.2012, 17:24
Von Guido Bohsem und Sibylle Haas

Der Arbeitsschutz in Deutschland stammt aus einer anderen Zeit: Es geht vor allem um die körperliche Unversehrtheit schwer arbeitender Männer. Doch inzwischen ist nicht mehr der Körper das größte Problem, sondern ist die Seele. Darum soll nun das Gesetz um den Schutz der seelischen Gesundheit ergänzt werden.

Eine Gruppe SPD-regierter Länder will das Arbeitsschutzgesetz erweitern. Über eine Bundesratsinitiative soll das Gesetz um den Schutz der seelischen Gesundheit der Beschäftigten ergänzt werden.

Im Juni hatte schon Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) angekündigt, den Umgang mit Handys strikter regeln zu wollen. Das Arbeitsschutzgesetz verlange mit seinem “knallharten Strafenkatalog” von jedem Chef, dass er “Körper und Geist seiner Mitarbeiter aktiv schützt”, sagte die Ministerin.

(Links nachträglich eingetragen)

Es muss ja nicht immer etwas Neues sein, über das eine Zeitung berichtet.
Schön, dass die SZ am Ball bleibt. Hier ist eine Erinnerung durchaus notwendig. Ein Personalratsmitglied schrieb mir:

… bei uns gibt es Erfahrungen mit Gesundheitsprogrammen. Leider aber keine wirklich positiven.
Es gab Versprechen und Ansätze, die aber nie verwirklicht wurden. Insbesondere mit der Einbeziehung von psychischen Belastungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung tut man sich sehr schwer. …

Viele Unternehmen wollen psychische Belastungen nicht wirklich in ihren Arbeitsschutz einbeziehen. Vor Allem wollen sie nicht dokumentieren, dass es arbeitsbedingte Fehlbelastungen gibt. Mitarbeiter, die solche Vorfälle melden, werden sogar noch zusätzlich unter Druck gesetzt. Selbstverpflichtungen (z.B. durch Zertifizierungen nach OHSAS 18001) zur Vorfallsuntersuchung sind dann nur Makulatur. Es gibt eben einen Konflikt zwischen Haftungsabwehr und ehrlicher Gefährdungsbeurteilung. Außerdem macht ein konsequenter ganzheitlicher Arbeitsschutz Führungsstile in einer Weise transparent, an die sich Unternehmensführungen wohl erst noch gewöhnen müssen.

Die Vorschriften des Arbeitsschutzes und die Rechtsprechung reichen eigentlich aus, um den Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz durchzusetzen. Aber das läuft in der Praxis viel zu zäh. Mehr als 15 Jahre der sehr beharrlichen Missachtung der Arbeitsschutzvorschriften durch viele Unternehmen sind ein Beweis für die Anarchie, die hier herrscht. Darum ist die Initiative der vier Länder leider wohl notwendig.

Vernachlässigte Psyche

Montag, 23. Juli 2012 - 20:29

“Vernachlässigte Psyche” ist der Titel eines Berichtes von Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung vom morgigen Dienstag (2012-07-24, Wirtschaft, S.17). Online ist “Anfrage an Bundesregierung – Staatlicher Arbeitsschutz vernachlässigt die Psyche” (2012-07-24).

Zum Artikel “Vernachlässigte Psyche” in der gedruckten SZ-Ausgabe:

… Wenn die Gewerbeaufsicht der Länder Betriebe kontrolliert, wird das Sachgebiet psychische Belastung nur “bei jeder neunzigsten Besichtigung” behandelt. So steht es in einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Darin weist das Ministerium auch darauf hin, dass die zuständigen Länder die Anzahl der Beschäftigten in der Arbeitsschutzverwaltung verringert habe und dort “mit einem weiteren Personalabbau” zu rechnen sei. …

(Link nachträglich eingefügt)

Die Antwort der Bundesregierung (Vorabausgabe) auf die Kleine Anfrage der Grünen (und der SPD) zum Thema “Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz”, die der Süddeutschen Zeitung vorlag (wie Thomas Öchsner es in der Süddeutschen Zeitung auch so kursiv schrieb), liegt allerdings jedem Bürger vor. Bei aller Maulerei über was sich Arbeitgeber in unserem Rechtstaat an Verstößen gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzes leisten konnten und können, muss ich hier dem Bundestag doch ein Kompliment aussprechen: Ich fand die Antwort vor einer Woche in der öffentlich zugänglichen Datenbank unseres Parlaments. (Aber manche Links dahin funktionieren nur wenn man vorher über die Hauptseite in die Datenbank eingestiegen ist.)

Der interessanteste Teil der Antwort der Bundesregierung zeigt, dass etwa 80% der befragten Unternehmen ihre Pflicht zur Beurteilung psychischer Belastungen missachtete verstieß. Die Mehrheit der Großunternehmen gab allerdings an, die Pflicht beachtet zu haben. Das ist mit Vorsicht zu genießen: Jene Unternehmen, die in Wirklichkeit überhaupt keine mitbestimmten Prozesse zur Beurteilung dieser Belastungen implementiert hatten, hatten jedoch bei der Umfrage schlicht gelogen. Die Betriebsräte (und die Auditoren) dieser Unternehmen hatten natürlich keine Ahnung davon, was die Unternehmen den Befragern zum Arbeitsschutz erzählten. Unternehmer, die Arbeitsschutzprozesse ohne Mitbestimmung implementieren, begehen eine Straftat.

Für die Süddeutsche Zeitung war die Gefährdungsbeurteilung dagegen wohl nicht so interessant. Das Wort ist auch irgendwie unsexy. Noch unsexier ist im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung vielleicht, dass die Unternehmen “ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) das Thema »Psychische Belastungen« als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung (GB)” in der Regel nicht aufgreifen (wie es bereits als Ergebnis aktueller Forschungsprojekte zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung von Ina Krietsch und Thomas Langhoff, Prospektiv GmbH, Dortmund für BAuA/GRAziL für den Zeitraum 2007-09 – 2010-04 berichtet wurde).

Der Bericht in der Süddeutsche Zeitung gibt auch die Sorge der Bundesregierung wieder, dass die Ressourcen der Aufsichtsbehörden noch knapper werden, als sie es ohnehin schon sind. Hier bietet sich aus meiner Sicht eine Problemlösung an: Die Betriebsräte und Personalräte helfen den Arbeitsschutzbehörden.

  • Die Betriebsräte und die Personalräte haben doch gezeigt, dass sie den ganzheitlichen Arbeitsschutz voran bringen können. Es gibt aber noch viele Arbeitnehmervertretungen, die bei diesem Thema Wissenslücken haben. Hier muss die Kompetenz aufgebaut werden, die erfolgreiche Kollegen schon aufbauen konnten. Dabei halfen bisher vor allem die Gewerkschaften.
  • Warum eine Anti-Stress-Verordnung, wenn wir schon den § 89 des Betriebsverfassungsgesetzes haben? Der Betriebsrat “hat bei der Bekämpfung von Unfall- und Gesundheitsgefahren die für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden, die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und die sonstigen in Betracht kommenden Stellen durch Anregung, Beratung und Auskunft zu unterstützen.” Die Aufsichtsbehörden sollten die Arbeitnehmervertreter stärker in die Pflicht nehmen.
  • Es ist nämlich ein Irrtum, dass Arbeitnehmervertreter nur ein “Mitbestimmungsrecht” haben, auch wenn das die Überschrift des § 87 BetrVG ist. Es ist vielmehr so, das Betriebsräte und Personalräte eine Mitbestimmungspflicht haben: Gemäß § 87 dürfen sie nicht nur “bei Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften” mitbestimmen, sondern sie haben mitzubestimmen. Es darf keine Betriebsräte geben, die die im BetrVG geforderte vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber falsch verstehen und deswegen Verstöße gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzes tolerieren.
  • Die Arbeitnehmervertreter brauchen auch Unterstützung von den Aufsichtsbehörden. Eine angemessene Anleitung durch die Behörden und eine besser koordinierte Zusammenarbeit von Arbeitnehmervertretern und Aufsichtspersonen wäre hilfreich. Angesichts der Widerstände kann hier ein bisschen Hartnäckigkeit nicht schaden.
  • (Auch die einzelnen Arbeitnehmer können sich an die Behörden wenden.)

Es war doch gerade die Idee, dass der ganzheitliche Arbeitsschutz Arbeitnehmern und Arbeitgebern einen entbürokratisierten Freiraum bieten sollte, betriebsnahe Lösungen zu finden. Die Arbeitnehmervertreter haben hier eine große Aufgabe bei der Mitbestimmung.
http://www.dgb-nord.de/hintergrund/3/19/IHK__Buerokratieabbau_eine.pdf, 2003

Bürokratieabbau jetzt – schlanker Staat für eine starke Wirtschaft
Forderungspapier der Industrie- und Handelskammern des Landes Mecklenburg-Vorpommern an die Landesregierung

Der Subsidiaritäts-Gedanke sollte mit Blick auf bürokratische Anforderungen stärker zum Zuge kommen: Statt eine Vielzahl an detaillierten gesetzlichen und rechtlichen Vorschriften sollte der Gesetzgeber seine konkreten Ziele (z.B. beim Arbeitsschutz) definieren. Die Unternehmen hätten dann die Pflicht, zur Realisierung dieser Ziele betriebsbezogen optimierte Lösungen zu entwickeln und selbst auszuwählen. Eine solche Subsidiaritätsregelung wäre insbesondere für Kleinbetriebe zu fordern – sie wäre aber auch ausweitungsfähig auf alle Unternehmen. Erfolgreiche Beispiele für die Umsetzung dieses Gedankens waren in den letzten Jahren Selbstverpflichtungen der Wirtschaft in der Umweltpolitik. …

Wie hat das seit 1996 funktioniert?

 
Der Bericht von Thomas Öchsner mit dem Untertitel “Die Bundesregierung räumt große Probleme beim Arbeitsschutz ein” ist eine gute Zusammenfassung der Antwort der Bundesregierung und des Hintergrunds zu dem Thema. Er erwähnt auch die “Anti-Stress-Verordnung” und die Vorbereitung der “Leitlinie Beratung und Überwachung zu psychischer Belastung”. Auf den “Bericht über Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit” wird ebenfalls suchfreundlich hingewiesen.

-> Alle Beiträge zur Kleinen Anfrage “Aufsichtstätigkeit beim Arbeitsschutz” im Bundestag.

Weitere Links:

 


Und hier noch die “Vernachlässigte Psyche” bei der Berliner Morgenpost aus dem Jahr 2003
(http://www.morgenpost.de/printarchiv/wissen/article466662/Vernachlaessigte-Psyche.html, 2003-08-10):
Berlin – Die Wirtschaftskrise führt zu einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Gerade Probleme am Arbeitsplatz sind die Hauptursache eines neuen Krankheitsbilds, das der Berliner Psychiater Professor Michael Linden kürzlich erstmals beschrieben hat: Posttraumatische Verbitterungsstörung. Besonderes Merkmal ist die tiefe Verbitterung infolge einer persönlichen Kränkung. …

Wie “streng” ist das Arbeitsschutzgesetz wirklich?

Donnerstag, 19. Juli 2012 - 22:17

Ursula von der Leyen in einem SZ-interview, 2012-07-20, S. 5

… Wir haben ein strenges Arbeitsschutzgesetz, das Arbeitgeber verpflichtet, auch den psychischen Arbeitsschutz ernst zu nehmen. Die Handynutzung ist nur eine Synonym für dieses große Thema. Das Wort psychischer Arbeitsschutz ist so sperrig, das versteht erst mal keiner, übrigens auch Unternehmen selten. Oder man hat ein Vorurteil und sagt, das sind die, die ein Psychoproblem haben. Das stimmt aber alles nicht. Mir geht es darum, die Diskussion anzufachen, dass es ein Problem gibt, um dann zusammen mit den Arbeitgebern, Gewerkschaften, Ländern und Gewerbeaufsicht eine Strategie zu entwickeln, was wir tun können, um den Schutz für die Arbeitnehmer zu verbesern. …

(Link und Kursivsatz nachträglich eingetragen)

Wie streng kann das Arbeitsschutzgesetz sein, wenn heute noch etwa zwei Drittel der Unternehmen psychische Belastungen nicht in ihren Arbeitsschutz einbezogen haben?

 


Antwort aus dem BMAS (2012-07-31) auf eine von mir an das BMAS gestellte Frage:
Das Gesetz ist streng, wie die BM’in das deutlich gemacht hat.
Richtig ist aber auch, dass es noch nicht flächendeckend und vollständig angewandt wird insbesondere bei Gesundheitsrisiken durch psychische Belastungen.
Diesem Defizit, das Sie zu Recht ansprechen, wollen wir, Bund, Länder und UVT, im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) begegnen. Wir haben uns mit den Sozialpartnern ab 2013 auf das Ziel “Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingten psychischen Belastungen” verständigt.
Ich erwarte, dass wir in diesem Feld schnell Fortschritte erzielen werden.
Die breite öffentliche Diskussion dazu sehe ich schon als einen solchen Fortschritt an.

Siehe auch: http://blog.psybel.de/gda-leitlinie-beratung-und-ueberwachung-bei-psychischer-belastung-am-arbeitsplatz/

Berufsunfähigkeitsverunsicherung

Mittwoch, 13. Juni 2012 - 22:10

Eine “Glatte Abfuhr”, so die Überschrift im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung (2012-06-14, S. 24), bekommen viele Versicherungskunden, die wegen psychischer Erkrankungen nicht mehr arbeiten können und deswegen nun ihre Berufsunfähigkeitsversicherung in Anspruch nehmen wollen. Denkste. Es ist eben sehr praktisch für Versicherungen, die geringere Widerstandskraft der Erkrankten als für diese angeschlagene Menschen dann kaum noch überwindbare Hürde zu nutzen. Und die Politik kann weiter so tun, als ob sich die Bürger mit eigenverantwortlicher Vorsorge absichern könnten. Zur Freiheit gehört ja bekanntlich Verantwortung. Tatsache ist jedoch, dass die gepriesene eigenverantwortliche Vorsorge nur jenen hilft, die sich noch mit eigenem Durchsetzungsvermögen helfen können.

• Für SZ-Abonnenten: http://szmobil.sueddeutsche.de/show.php?id=671973&etag=1339624800
• Google: http://www.google.de/search?q=”Glatte+Abfuhr”+Süddeutsche-Zeitung+Berufsunfähigkeit

Der Nachwuchs wird verheizt

Montag, 4. Juni 2012 - 18:29

http://www.sueddeutsche.de/karriere/studie-zu-arbeitsbedingungen-junge-arbeitnehmer-klagen-ueber-stress-1.1366336

… Viele Überstunden, schlechte Bezahlung, unsichere Jobs – viele junge Beschäftigte klagen über die hohen Belastungen ihrer Jobs. Angesichts der fehlenden Fachkräfte sieht der Gewerkschaftsbund noch ein anderes Problem: Der Nachwuchs wird verheizt. … 

In dem Artikel geht es um eine repräsentativen Umfrage im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) bei mehr als 1200 Arbeitnehmern unter 35 Jahren.

In diesem Zusammenhang eine Begriffsklärung: Manche Leute wundern sich über den Begriff “alternsgerecht”. Das “n” ist aber kein Irrtum: Schon bei jungen Menschen ist auf alternsgerechte Arbeit zu achten. Dann können sie auch im Alter Leistungen erbringen, ggf. an altersgerechten Arbeitsplätzen.

Siehe auch: