Schlagwort 'Koalitionsvertrag'

CDU/CSU: Reine Wohlfühlprogramme

Samstag, 18. Oktober 2014 - 20:23

Peter Ramsauer (CSU) hat vorgeschlagen, zur Stärkung der Wirtschaft Koalitionsprojekte auszusetzen. In der Unionsfraktion ist Ramsauer mit diesem Ansinnen nicht alleine. Michael Fuchs (Unions-Fraktionsvize), Gerda Hasselfeldt (CSU-Landesgruppenchefin) und Carsten Linnemann (Chef der Unions-Mittelstandsvereinigung) ziehen mit. Auch dabei bleibt es nicht (http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/koalitionskrach-kuendigt-sich-an-ramsauer-will-mindestlohn-aussetzen/10840820.html):

[...] Der wirtschaftspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer (CDU), springt Ramsauer zur Seite. [...] Entsprechend müssten die geplanten Regelungen 

  • zur Frauenquote,
  • zum Gesetz zur „besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“
  • oder das Anti-Stress-Gesetz

auf den Prüfstand. „Angesichts der gedämpften Wachstumsprognosen können wir bei den Ausgaben nicht einfach so weitermachen und mit dem Füllhorn übers Land ziehen“, warnte Pfeiffer. „Es ist an der Zeit, reine Wohlfühlprogramme zu überdenken oder zumindest zu verschieben.“ [...]

(Originalzitat mit von mir verändertem Layout)

Dem wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU reichen die Verzögerungstricks, die die Unionsparteien in den Koalitionsvertrag einbauen konnten, wohl noch nicht aus.

 


Abschließend müssen wir noch klären, was unter “reine Wohlfühlprogramme” zu verstehen ist.

http://wortschatz.uni-leipzig.de/cgi-portal/de/wort_www?site=208&Wort_id=15312549
2014-10-18:

Wort: Wohlfühlprogramm
Anzahl: 37
Häufigkeitsklasse: 18 (d.h. der ist ca. 2^18 mal häufiger als das gesuchte Wort)

Beispiel(e):
Als Highlight erwartet alle Saunafans bei zwei Mitternachtssaunen am 3. und 17. Oktober ein außergewöhnliches Aufguss- und Wohlfühlprogramm mit ausgewählten Düften wie Mango oder Tropical Fruits sowie einzigartige Erlebnisaufgüsse und exotische Masken. (Quelle: www.tz-online.de, 2011-01-31)
Du kannst dein Wohlfühlprogramm mit einem Gesichtspeeling und einem Ganzkörperpeeling beginnen. (Quelle: www.krone.at, 2011-01-11)
»Ein abwechslungsreiches Wohlfühlprogramm für müde Mamas« lautet daher die Zweitüberschrift des Abends, der in Kooperation mit dem Fam.o.S. stattfindet. (Quelle: www.haller-kreisblatt.de, 2011-01-04)
weitere Beispiele

Signifikante Kookkurrenzen für Wohlfühlprogramm:
Kreuz (47.6), Privatklinik (46.83), Patienten (36.68), ein (15.3), Österreich (14.27), neben (13.82), für (13.09), mit (9.45), Mit (9.24), Ein (9.05), lassen (8.82), sowie (8.04)
Signifikante linke Nachbarn von Wohlfühlprogramm:
Ein (21.22), zum (15.8), ein (10.45), das (8.61), und (3.96)
Signifikante rechte Nachbarn von Wohlfühlprogramm:
für (21.25), mit (13.68)

Hinsichtlich des Begriffes “Füllhorn” bitte ich die geneigten Leser dieses Blogs, sich gegebenenfalls selbst bei der Uni Leipzig zu informieren.

Handelsverband: Teile der Politik unlauter

Freitag, 17. Oktober 2014 - 07:23

“Die Wirtschaft” schießt sich schon seit längerer Zeit auf die von ihr befürchtete Anti-Stress-Verordnung ein. Jahrelang haben Unternehmer das Thema aussitzen können. Nun jammern sie, dass sie enger an die Kandarre genommen werden sollen.

Der Handelsverband Deutschland (HDE, ehemals Hauptverband des Deutschen Einzelhandels) ist die Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels. Pressemeldung des HDE (http://www.einzelhandel.de/index.php/presse/aktuellemeldungen/item/124681-meinung-der-stress-mit-dem-stress):

Kommentar: Der Stress mit dem Stress
08. Oktober 2014

Kommentar von HDE-Geschäftsführer Heribert Jöris

Das Thema „psychische Belastung“ ist zum Mega-Thema geworden.

So stellt auch der Koalitionsvertrag eine sogenannte Anti-Stress-Verordnung in Aussicht. Richtig dabei ist, dass Arbeit zu Stress führen kann und sich dieser Stress auch gesundheitlich negativ auswirken kann – aber nicht muss. Das Gleiche gilt gleichermaßen für den privaten Bereich, wo Konflikte in der Partnerschaft oder finanzielle Sorgen Menschen extrem psychisch beanspruchen können. Und manchmal sind Probleme in dem einen oder anderen Bereich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wieder andere stecken diese Belastungen schadlos weg. Das Stichwort lautet „Resilienz“, vereinfacht ausgedrückt auch Widerstandsfähigkeit.

Faktoren, die zu einer psychischen Beanspruchung von Arbeitnehmern führen können, sind aber nicht auf den ersten Blick erkennbar. Es fehlen einfache Messwerte. Viele Faktoren – wie im Einzelhandel das Verhalten von „König Kunde“ – sind nicht immer kalkulierbar. Insbesondere ist die Frage offen, inwieweit der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis hinreichend ist, mögliche Gefährdungen in ihrer Komplexität klar zu definieren und zu erfassen, um auf dieser Basis moderne Arbeitsformen menschengerecht zu gestalten. Einfach gesagt: Teile der Politik verlangen hier von den Unternehmen mehr, als selbst die Wissenschaft anzubieten hat. Das ist unlauter.

Man müsste noch einmal überlegen, was hier unlauter ist. Verlangen tatsächlich “Teile der Politik” von den Unternehmen mehr, als selbst die Wissenschaft anzubieten hat? Was hat dieser Handelsverband im Bereich der psychischen Belastungen bisher in eigener Initiative unternommen?

Seit 1996 gab das Arbeitsschutzgesetz den Unternehmern viel Freiheit bei der Gestaltung des Arbeitsschutzes. Für den Einzelhandel und andere KMU ist die Umsetzung sicherlich nicht einfach. Aber wenigstens hätten Verbände wie der HDE das Thema spätestens ab etwa 2004 aufgreifen und ihren Mitgliedern beim Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz helfen können. Zu viele Unternehmen haben fehlende strenge Vorgaben im Arbeitsschutzgesetz als Einladung zum Nichtstun aufgefasst. Nachdem gerade im Bereich der psychischen Belastungen die Schmerzgrenze überschritten wurde, jammern die Unternehmen nun über eine möglicherweise bevorstehende “Anti-Stress-Verordnung”, die ihnen unrealistische Grenzwerte aufbürden würde.

Die Unternehmen sind selbst schuld an dieser Entwicklung der Dinge. Ich hoffe allerdings, dass eine Anti-Stress-Verordnung im Bereich der psychischen Belastung keine harten Grenzen definiert (wie sollte das auch gehen?), sondern eher die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben stärkt. Es war ja die ursprüngliche Idee, dass Argeitgeber und Arbeitnehmer (bzw. deren Vertreter) in ihren Unternehmen betriebsbnahe Lösungen erarbeiten. Statt dessen gibt es Fälle, in denen sogar große Unternehmen ganz offen und unter den Augen sowohl der Gewerbeaufsicht wie auch unter den Augen externer Auditoren die Mitbestimmung im Arbeitsschutz umgehen können, was ja auch eine strafbare Handlung sein kann. Solange das möglich ist, wird der Rechtsstaat wieder stärker auf Gesetze und Vorschriften sowie auf stärkere Kontrolle setzen müssen. Eine Anti-Stress-Verordung muss sich ja nicht unbedingt direkt an die Unternehmen richten, sondern könnte auch als eine Richlinie für die behördliche Aufsicht gestaltet werden.

Der HDE könnte ganz lauter seinen Mitgliedern nahelegen, die heute schon vorhandenen Handlungshilfen zu nutzen.

Nahles nähert sich der Anti-Stress-Verordnung

Dienstag, 26. August 2014 - 22:42

Heute in den Nachrichten:

Arbeitsministerin Andrea Nahles will 2015 Kriterien für eine Anti-Stress-Verordnung vorlegen. “Es gibt unbestritten einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme von psychischen Erkrankungen, das haben mittlerweile auch die Arbeitgeber anerkannt. Wir haben dazu auch wissenschaftliche Erkenntnisse”, [...]

sagte Nahles im Sommer-Interview der Rheinischen Post (Rehna Lehmann, Eva Quadbeck): http://www.rp-online.de/politik/ministerin-andrea-nahles-spd-eine-anti-stress-verordnung-ist-mein-ziel-aid-1.4477441

[...] Ich habe dafür gesorgt, dass die Prüfung einer Anti-Stress-Verordnung in den Koalitionsvertrag hineinkommt. Es gibt unbestritten einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme von psychischen Erkrankungen, das haben mittlerweile auch die Arbeitgeber anerkannt. Wir haben dazu auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Dennoch ist es eine Herausforderung, diese gesetzlich rechtssicher umzusetzen. Daher haben wir die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beauftragt, fundiert aufzuarbeiten, ob und wie es möglich ist, Belastungsschwellen festzulegen. Wir brauchen allgemeingültige und rechtssichere Kriterien, bevor wir den Betrieben etwas vorschreiben. [...]

“Belastungsschwellen” sind von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Das Problem ist nicht das Fehlen von “Belastungsschwellen”, sondern vielmehr das Fehlen nachvollziehbarer, transparenter und mitbestimmter Prozesse für den Umgang mit psychischen Belastungen im Arbeitsschutz. Die Gefährdungsbeurteilungen werden nicht einmal so durchgeführt, wie die Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA) es ihren Mitgliedern empfiehlt. Deswegen fehlen in vielen Betrieben auch viele Jahre nach dem Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes (1996) immer noch Daten über das tatsächliche Belastungsspektrum. Es gibt auch heute noch genug Arbeitgeber, die das Belastungsspektrum lieber nicht dokumentiert haben wollen. Sie beseitigen zwar hier und da Mißstände, aber nicht (wie vorgeschrieben) auf Basis einer Gefährdungsbeurteilung, sondern eventuelle Fehlbelastungen nicht dokumentieren zu müssen.

Eine Anti-Stress-Verordnung sollte die Stärkung der Mitbestimmung im Arbeitschutz fördern und die überforderte Gewerbeaufsicht viel besser in die Lage versetzten, überhaupt einmal zu verstehen, was in den Betrieben los ist. Das Problem ist nicht fehlendes Wissen, sondern es herrscht Anarchie: Arbeitgeber meinen in Ihrer großen Mehrheit, sie stünden über dem Gesetz: 80% der Betriebe konnten sich sanktionslos herausnehmen, psychische Belastungen nicht in der vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilung zu erfassen. Wenn die Belastungen gar nicht nicht erst gesehen werden, dann helfen auch keine “Belastungsschwellen”.

 
http://www.stern.de/politik/deutschland/psychische-erkrankungen-nahles-will-anti-stress-verordnung-fuer-arbeitnehmer-2133478.html und http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/anti-stress-verordnung-nahles-sagt-dem-arbeitsstress-den-kampf-an/10608904.html

[...] SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte gesagt, er sehe bei diesem Thema vor allem Arbeitgeber und Gewerkschaften und nicht den Gesetzgeber in der Pflicht. Die stellvertretende Bundestags-Fraktionsvorsitzende Carola Reimann und Nordrhein-Westfalens SPD-Arbeitsminister Guntram Schneider hatten sich hingegen für ein Gesetz stark gemacht, das die Verfügbarkeit von Arbeitnehmern grundsätzlich regeln soll. [...]

Was der Stern und die WiWo nicht schreiben: Gabriel äußerte sich hier nur zu einem Unterthema aus dem Bereich der Psychischen Belastungen, nämlich um den Dauerbrenner “ständige Erreichbarkeit”. Ganz unrecht hat Gabriel zwar nicht, aber er hat die Betriebsräte vergessen. Nicht die Gewerkschaften, sondern die Betriebsräte bestimmen bei der Umsetzung der Forderungen des Arbeitsschutzgesetzes mit. Vielen Betriebsräten fehlt hier aber noch die erforderliche Kompetenz.

Eisenbahnergewerkschaft bewertet Koalitionsvertrag

Mittwoch, 18. Dezember 2013 - 06:33

http://www.evg-online.org/Politik/13_12_05_KoaV/Koalitionsvertrag.pdf, S. 12

[...] Anerkennenswert ist, dass die zunehmenden Gefährdungen durch psychische Belastungen bei der Arbeit benannt werden.

Die Forderung der Gewerkschaften nach einer „Antistressverordnung“ gilt es aber weiterhin einzufordern. [...]

Das ifaa begrüßt den Koalitionsvertrag

Montag, 16. Dezember 2013 - 22:06

http://www.presseportal.de/pm/82380/2619581/ifaa-kommentiert-koalitionsvertrag-zum-thema-ganzheitlicher-arbeitsschutz/rss:

Das ifaa begrüßt Vorhaben, Arbeitsschutz zum Thema “psychische Belastung und Arbeit” wissenschaftlich zu untermauern [...]

Dem arbeitgebernahen ifaa scheint die in den letzten Jahrzehnten schon aufgebaute wissenschaftliche Untermauerung des Arbeitsschutzes nicht in den Kram zu passen.

[...] Gleichzeitig ist die alleinige Nennung der Arbeitsplatzbedingungen als Grund für die drastische Zunahme von psychischen Erkrankungen nicht richtig”, so Sandrock weiter [...]

Das meint Stephan Sandrock. Er bezieht sich auf den folgenden Absatz im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD:

[...] Der Schutz der Beschäftigten vor Gefahren am Arbeitsplatz und die Stärkung der Gesundheit bei der Arbeit ist ein wichtiges Gebot sozialer Verantwortung. Ein deutlicher Hinweis auf die Herausforderungen, die eine sich wandelnde Arbeitswelt für den deutschen Arbeitsschutz bedeutet, ist die drastische Zunahme psychischer Erkrankungen. Unser Leitbild ist ein ganzheitlicher, physische und psychische Belastungen umfassender Gesundheitsschutz bei der Arbeit. [...]

(Link nicht im Originaltext)

Zurück zum ifaa:

[...] Aktuelle Erkenntnisse zeigen, dass psychische Belastung durch mehrere Faktoren entsteht. Dazu können auch unter Umständen die Arbeitsbedingungen gehören. “Die Gründe sind aber meist vielschichtiger. Zwei der möglichen Faktoren sind z.B. die persönliche und genetische Disposition oder besonders belastende Lebensereignisse,” [...]

Diese richtigen Erkenntnisse gibt es wohl schon seit mehreren Jahrzehnten. Aber “die persönliche und genetische Disposition” sind keine Faktoren für Belastungen, sondern für die Reaktion auf Belastungen, also für Beanspruchungen. Belastungen gehen im Arbeitsschutz von Arbeitsplätzen (einschließlich derer mobilen Erweiterungen) aus, die weder persönliche noch genetische Dispositionen haben. Das ifaa begeht hier einen Kategorienfehler.

Natürlich gibt es “unter Umständen” auch außerhalb der Arbeitswelt psychische Fehlbelastungen. Aber es verlangt ja niemand von den Arbeitgebern, sich auch noch darum zu kümmern. Solange sie aber mehrheitlich nicht einmal in ihrem eigenen Verantwortungsbereich die Arbeitsschutzvorschriften im Bereich der mentalen Arbeitsbelastung beachten, sollten die Arbeitgeber (und deren Institute) sich mit Äußerungen zur “persönlichen und genetischen Dispositionen” der Beschäftigten und zu deren Freizeitverhalten erst einmal geflissentlich zurückhalten.

Sandrock weiter:

[...] “Jeder Betrieb hat unterschiedliche Rahmenbedingungen und Bedürfnisse”, erläutert Sandrock. “Eine gesetzliche Vorschrift, wie sie der Koalitionsvertrag andeutet, ist nicht für alle durchführbar und notwendig. Zur Erhaltung der Gesundheit gehört außerdem auch der eigenverantwortliche Umgang der Beschäftigten mit ihrer Freizeit.” [...]

Die unterschiedliche Rahmenbedingungen und Bedürfnisse jedes Betriebes sind genau der Grund für eine starke Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei der betriebsnahen Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes. Hier könnte “eine gesetzliche Vorschrift” die Verantwortung der Betriebsräte und Personalräte bei der Erfüllung ihrer Mitbestimmungspflicht noch weiter stärken - ohne Vorschriften zu machen, die der Unterschiedlichkeit der Betriebe nicht gerecht werden.

Zur Problemlösung verweist die Meldung des ifaa anschließend nur auf das Gesundheitsmanagement und die Gesundheitsförderung. Zur psychischen Belastungen als Thema des Arbeitsschutzes sagt das ifaa wieder einmal nichts. Daran sieht man, wie einseitig dieses Institut der Arbeitgeber arbeitet.

Dass Arbeitgeber auch vernünftigere Stellungnahmen zum Thema der psychischen Belastungen im Arbeitsschutz geben können, zeigte vor noch nicht zu langer Zeit die Bundesvereinigung der Arbeitgeber: Die Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz — Besonderer Schwerpunkt: psychische Belastung — Ein Praxisleitfaden für Arbeitgeber

Taktische Unverständlichkeit

Donnerstag, 5. Dezember 2013 - 10:50

http://www.heise.de/newsticker/meldung/Koalitionsvertrag-Deutschland-staerken-Menschen-muessen-2060316.html

[...] Mitunter wollen Koalitionspartner aber auch gar nicht richtig verstanden werden, erklärt Prof. Brettschneider. Insbesondere dann, wenn unklare oder unpopuläre Positionen absichtlich verschleiert werden sollen. Dann werde gerne auf abstraktes Verwaltungsdeutsch zurückgegriffen. Wir sprechen in so einem Fall von “taktischer Unverständlichkeit”, sagt Brettschneider. [...]

Manchmal kommt mir der Verdacht auf, dass auch das Arbeitsschutzgesetz Dank Lobbyhilfe so taktisch unverständlich geschrieben wurde, dass es bis heute im Bereich der mentalen Arbeitsbelastung straflos missachtet werden kann. Der Gewerbeaufsicht scheint das Gesetz selbst bei offensichtlichen Abweichung nicht helfen zu können.

Koalitionsvertrag: Ganzheitlicher Arbeitsschutz

Donnerstag, 28. November 2013 - 07:06

https://www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf und http://www.spd.de/linkableblob/112790/data/20131127_koalitionsvertrag.pdf, Auszug:

Koalitionsvertrag
zwischen CDU, CSU und SPD
18. Legislaturperiode

Ganzheitlicher Arbeitsschutz

Der Schutz der Beschäftigten vor Gefahren am Arbeitsplatz und die Stärkung der Gesundheit bei der Arbeit ist ein wichtiges Gebot sozialer Verantwortung. Ein deutlicher Hinweis auf die Herausforderungen, die eine sich wandelnde Arbeitswelt für den deutschen Arbeitsschutz bedeutet, ist die drastische Zunahme psychischer Erkrankungen. Unser Leitbild ist ein ganzheitlicher, physische und psychische Belastungen umfassender Gesundheitsschutz bei der Arbeit. Die Zusammenarbeit mit der allgemeinen Gesundheitspolitik wird ausgebaut. Betriebliche Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz werden enger verknüpft. Das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) wollen wir stärken und mehr Verbindlichkeit erreichen.

Gesundheitszirkel in den Betrieben haben sich in der Praxis als erfolgreicher Ansatz erwiesen. Wir wollen erreichen, dass in Unternehmen in Kooperation mit den gesetzlichen Krankenkassen solche Zirkel vermehrt eingerichtet werden. Wir werden die Entwicklung neuer Präventionskonzepte und betrieblicher Gestaltungslösungen bei psychischer Belastung in enger Zusammenarbeit mit den Trägern der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie vorantreiben, den Instrumenteneinsatz besser ausrichten, auf eine verbesserte Kontrolle des Arbeitsschutzes hinwirken und in bestehenden Arbeitsschutzverordnungen, die noch keine Klarstellung zum Schutz der psychischen Gesundheit enthalten, dieses Ziel aufnehmen. Es erfolgt eine wissenschaftliche Standortbestimmung, die gleichzeitig eine fundierte Übersicht über psychische Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt gibt und Handlungsoptionen für notwendige Regelungen aufzeigt. Im Lichte weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse schließen wir insoweit auch verbindliche Regelungen in der Form einer Verordnung gegen psychische Erkrankungen nicht aus.

Der Schutz und die Stärkung der physischen Gesundheit in besonders belastenden Tätigkeiten werden weiter verbessert, die entsprechende Forschung unter Begleitung der Tarifpartner intensiviert und Lösungsvorschläge zur Vermeidung arbeitsbedingter Verschleißerkrankungen und Frühverrentungen erarbeitet.

Kontrolle des Arbeitsschutzes: Im 1. Entwurf (Stand 24.11. 20:00) stand: “auf eine Personalaufstockung bei der Kontrolle des Arbeitsschutzes hinwirken”. Im finalen Text steht “auf eine verbesserte Kontrolle des Arbeitsschutzes hinwirken”. Wir sollten uns also in Erinnerung behalten, dass in den Koalitionsverhandlungen der Personalmangel bei der Gewerbeaufsicht angesprochen wurde. Es sind noch andere Schwächen zu beheben (die in der Vergangenheit aus meiner Sicht wegen der Fehleinschätzung des unternehmerischen Verantwortungsbewusstseins bewusst von der Politik toleriert wurden). Konkrete Maßnahmen müssen aber bezahlt werden.

Arbeitsschutz in Zusammenarbeit mit der allgemeinen Gesundheitspolitik: In der Vergangenheit hatten sich nach meinem Eindruck das CDU-geführte Bundesministerium für Arbeit (mit dem verhältnispräventiv orientierten Arbeitsschutz) und das FDP-geführte Ministerium für Gesundheit (mit einer überwiegend verhaltenspräventiv angelegten Gesundheitsförderung) nicht sonderlich gut abgestimmt. Zusammenarbeit ist gut, aber mit dem beabsichtigten Ausbau der Zusammenarbeit des Arbeitsschutzes mit der allgemeinen Gesundheitspolitik könnte weiterhin versucht werden, die Kosten des Arbeitsschutzes weg von den Arbeitgebern hin zu den Mitarbeitern und der Gemeinschaft der Krankenversicherten und Steuerzahler zu verschieben.
        Darum ein wichtiger Hinweis: Verkauft ein Arbeitgeber z.B. der Gewerbeaufsicht, den Auditoren, seinen Mitarbeitern usw. Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitförderung als “Arbeitsschutzmaßnahmen”, dann muss der Arbeitgeber die Kosten tragen und vor der Durchführung der Arbeitsschutzmaßnahme die Mitbestimmungspflicht des Betriebsrates oder des Personalrates beachtet haben. Wenn die Maßnahme überwiegend verhaltenspräventiv ist, dann ist sie nachrangig gegenüber den im Arbeitsschutz vorgeschriebenen verhältnispräventiven Maßnahmen. Und Maßnahmen, für die Mitarbeiter eigene Zeit und eigenes Geld aufbringen müssen (selbst, wenn nur teilweise), sind keine Arbeitsschutzmaßnahmen.

Klarstellung: Mit “in bestehenden Arbeitsschutzverordnungen, die noch keine Klarstellung zum Schutz der psychischen Gesundheit enthalten, dieses Ziel aufnehmen” steht nun auch im Koalitionsvertrag, dass hier nur eine Klarstellung vorgenommen wird. Die Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz besteht nämlich schon seit dem Jahr 1996.

Anti-Stress-Verordnung: Wissenschaftliche Standortbestimmungen, die gleichzeitig eine fundierte Übersicht über psychische Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt geben und Handlungsoptionen für notwendige Regelungen aufzeigen, sind längst verfügbar. Die Koalitionsverhandler einigten sich nur auf ein unverbindliches Nachdenken über eine “Verordnung gegen psychische Erkrankungen”, die die SPD will, aber nicht so sehr die CDU/CSU. Damit reiht sich dieses wohl auch als “Anti-Stress-Verordnung” bekannte Thema in eine Warteschlange mit über 80 Prüfaufträgen im Koalitionsvertrag ein, mit denen diese Koalition die Leidensfähigkeit der Bürger prüfen wird.

NRW-Koalitionsvertrag 2012 – 2017:
gute Arbeit, anständige Arbeitsbedingungen

Samstag, 23. Juni 2012 - 12:20

http://www.gruene-nrw.de/fileadmin/user_upload/gruene-nrw/politik-und-themen/12/koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2012-2017.pdf

 
Zeilen 228 – 234

Wir setzen uns gemeinsam mit den Gewerkschaften für gute Arbeit, anständige Arbeitsbedingungen und faire Löhne ein. Wir halten am Ziel der Vollbeschäftigung fest. Wir treten auch in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften für Mindeststandards als Regeln gegen Missbrauch und Lohndumping auf dem Arbeitsmarkt ein. Für uns ist es eine Frage der Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft, den Menschen durch gute Arbeit wieder Teilhabe und sozialen Aufstieg zu ermöglichen.

 
Zeilen 4815 – 4846

Beschäftigungsfähigkeit kann nur durch gesunde, humane Arbeitsbedingungen gesichert werden. Darauf werden wir den Gesundheits- und Arbeitsschutz in NRW stärker konzentrieren.

Gemeinsam mit Sozialpartnern und Sozialversicherungen werden wir das Programm “Arbeit gestalten – NRW” auflegen und umsetzen, dass sich schwerpunktmäßig mit der Gestaltung von betrieblichen Handlungsfeldern auf folgenden Gebieten befasst: alternde Belegschaften, gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen, Umgang mit Vielfalt und Unterschiedlichkeit in den Belegschaften.

Dies gilt insbesondere für psychische Erkrankungen, die zu hohen Ausfallzeiten führen und der häufigste Grund für Frühverrentungen sind. Wir wollen daher in Kooperation mit interessierten Unternehmen oder Unternehmensverbänden eine auf Selbsthilfegruppen gestützte Präventionsoffensive starten. Dabei gilt es einerseits zu untersuchen, was die Beschäftigten am Arbeitsplatz belastet, um Konzepte zu entwickeln wie menschlicher und intelligenter gearbeitet werden kann und andererseits innerbetriebliche Beratungs- und Krisenhilfe aufzubauen.

Die bestehende Deckelung des Rehabilitations-Budgets nach § 220 Abs. 1 SGB VI seit 1997 ist aufzuheben und dem tatsächlichen Bedarf anzupassen. Der Rechtsanspruch nach dem SGB IX auf Leistungen zur Teilhabe der Versicherten muss zwingend erfüllt werden. Der Grundsatz „Reha vor Rente“, die Tendenzen zur Verdichtung der Arbeit, zunehmende belastende Arbeitsbedingungen, bedingt ein höheres Budget für Rehabilitation, um frühzeitig drohende Leistungsminderung, Erkrankung, Behinderung und Erwerbsminderung zu verhindern.

Wir werden den einheitlichen Arbeitsschutz wiederherstellen. Der einheitliche Arbeitsschutz umfasst dabei das Aufgabenspektrum des technischen und betrieblichen Arbeitsschutzes, denn beides kann nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Daher muss er auch in der Organisation in der Verwaltung deutlich zu erkennen und abzugrenzen sein. Die Zahl der Stellen für das Fachpersonal muss auskömmlich sein und vom zuständigen Fachressort fachlich verwaltet werden.

 
Zeilen 5510 – 5527

Wir setzen uns für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Das ist der Wunsch der meisten Familien und es entspricht auch dem wachsenden Fachkräftebedarf in der Wirtschaft. Wir wollen eng mit Arbeitgebern, Gewerkschaften, Betriebsräten, Verbänden und anderen Akteuren zusammenarbeiten, um gute Ansätze für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbreitern. Dazu werden wir die bestehende Aktionsplattform „Familie@Beruf“ weiterentwickeln.

Die Bundesregierung stellt in ihrem 8. Familienbericht, der sich dem Thema „Zeit“ widmet, fest, dass das Arbeitsrecht eine strukturelle „Blindheit“ gegenüber Familien hat. Wir wollen, dass dieser richtigen Erkenntnis auch Taten folgen und werden deshalb in einer Bundesratsinitiative Vorschläge für familienfreundliche Arbeitszeitregelungen im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz und im Teilzeit- und Befristungsgesetz unterbreiten. Dabei geht es uns darum, dass Eltern mehr Einfluss auf die Ausgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen haben, wie Arbeitszeit und Arbeitsort. Ebenso wollen wir erreichen, dass Teilzeitstellen nicht zur Sackgasse werden. So werden wir uns dafür einsetzen, dass Teilzeitmodelle an Lebensphasen orientiert werden und es ein Rückkehrrecht auf Vollzeit gibt.

 
Zeilen 6046 – 6053

Psychische Erkrankung im Erwachsenalter ist die Erkrankungsart mit der höchsten Steigerungsrate. Ursachen sind sowohl in den veränderten Anforderungen in unserer Gesellschaft, insbesondere am Arbeitsplatz zu suchen. Sie verursachen enorme Kosten im Gesundheitssystem und kommen durch in der Regel langen Arbeitsausfall auch die Unternehmen teuer zu stehen.

Das Thema „psychische Gesundheit“ ist daher auch in der Landesgesundheitspolitik
aufzuwerten.

Fehlt dem “sowohl” hier nicht ein “als auch”?

Das Stichwort “Geschichte” ordnete ich auch diesem Artikel zu, weil psychische Belastungen am Arbeitsplatz hier erstmalig in einem Koalitionsvertrag thematisiert wurden.