Schlagwort 'Frührente'

Jede zweite Frührente psychisch bedingt

Montag, 12. Dezember 2011 - 07:29

Techniker Krankenkasse: http://m.tk.de/tk/hessen/pressemitteilungen-2012/pressemitteilungen-2011/405442

Deutlicher Anstieg der psychisch bedingten Frührenten in Hessen

Frankfurt am Main, 7. Dezember 2011

Im vergangenen Jahr sind in Hessen 5.806 Menschen, davon 2.625 Männer und 3.181 Frauen, aufgrund psychischer Probleme vorzeitig aus dem Berufsleben ausgeschieden. Das sind 14 Prozent mehr als im Vorjahr und sogar über 38 Prozent mehr als noch im Jahr 2008. Nach Angaben der Techniker Krankenkasse (TK) ist mittlerweile fast jede zweite Frührente psychisch bedingt.

Dr. Barbara Voß, Leiterin der TK-Landesvertretung in Hessen, bezweifelt, dass die Betroffenen durch Frühberentungen entlastet werden. “Viele Menschen finden in ihrer Arbeit Halt und Bestätigung. Wird ihnen diese genommen, kann die psychische Belastung sogar zunehmen.” Anstatt Menschen frühzeitig in Rente zu schicken, wäre es laut Voß wichtiger, rechtzeitig einem belastenden Arbeitsumfeld und dessen gesundheitlichen Folgen wie Burnout oder Sucht entgegenzuwirken. Die TK unterstützt Unternehmen bei solchen Projekten. “Auch ist es wichtig, psychische Erkrankungen im Unternehmen nicht zu tabuisieren und über die individuellen psychosozialen Beanspruchungen am Arbeitsplatz zu sprechen”, so Voß.

Rund elf Prozent der psychisch bedingten Frührenten werden laut TK an Menschen gezahlt, die wegen ihrer Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten oder Drogen nicht mehr arbeiten können. In Hessen waren davon im vergangenen Jahr 642 Menschen betroffen. Drei Viertel davon sind Männer.

(Link nachträglich eingetragen)

Gejammer: Die Not der Psychiater

Freitag, 25. November 2011 - 06:23

Andreas Meißner ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in München. Auch ist er
Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Münchner Nervenärzte und Psychiater. Er schreibt heute in der Außenansichten-Rubrik (Seite 2) der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Die Not der Psychiater:

Alle reden vom Burn-out, kaum einer von den Menschen mit Psychose oder Depressopn. Patienten und Helfer bleiben allein. …

… Studien haben gezeigt, dass ein Viertel der psychisch Kranken eine Psychotherapie machen, was jedoch drei Viertel des zur Verfügung stehenden Budgets verschlingt. Die anderen 75 Prozent der Patienten werden dagegen durch Nervenarzte und Psychiater behandelt – ihnen stehen lediglich die restlichen 25 Prozent des entsprechenden Honorartopfes zur Verfügung. Dadurch wächst die Gefahr, dass die psychotherapeutische Behandlung oft leichter, dafür eloquenter psychisch Kranker, die meist noch über ein stabiles soziales Netz und einen Arbeitsplatz verfügen, vieles an Ressourcen verbraucht. Ressourcen, die dann fehlen für die psychiatrische Versorgung von Patienten mit ausgeprägten Störungen wie schweren Depressionen und Psychosen.

Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen sind daher gefordert, die Schieflage in der Versorgung psychisch Kranker zu korrigieren …

Wenn Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenkassen, Psychiater und Journalisten (auch der SZ) ihren Job ordentlich machen würden, dann wäre die seit vielen Jahren auch von den Kassen und Journalisten tolerierte Mißachtung der Pflicht der Unternehmen zum Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz längst deutlich thematisiert worden. Die Krankenkassen (und damit ihre Kunden) hätten weniger Kosten und auch der von Andreas Meißner angepeilte nicht durch Fehlbelastungen am Arbeitsplatz geschädigte Rest der psychisch Erkrankten hätte weniger Wartezeiten in der Psychotherapie und der Psychiatrie. Andreas Meißner müsste dann auch nicht so sehr über fehlende Ressoucen jammern, die ihm die Psychotherapeuten mit ihren “eloquenten” Klienten angeblich wegschnappen.

(Nachtrag, 2011-11-28: Zum Burnout einer großen Gruppe von weniger “eloquenten” Betroffenen gibt es interessante Anmerkungen von Prof. Johannes Siegrist ab 53m30s im Podcast einer Sendung Ständig unter Druck bei dradio.de. Und noch etwas: “Der Trend ist klar. Und es trifft durchweg den Otto Normalverbraucher, der [wegen Burnout] dann still und heimlich und mit Abschlägen in der Erwerbsminderungsrente verschwindet.”)

Besonders erstaunlich finde ich in Andreas Meißners SZ-Beitrag, dass der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie anscheinend Psychotherapie nicht versteht:

… Dabei wäre oft gar nicht gleich eine tiefgehende Psychotherapie nötig, wie sie mit durchschnittlich 40 Stunden durchgeführt wird und mit einem festen Satz von 80 Euro pro Stunde schnell hohe Kosten verursacht. Nicht jeder Burnout-Betroffene muss seine Kindheit aufarbeiten – nicht jeder will das auch. …

Meißner hat wohl nicht bemerkt, dass schon seit einiger Zeit auch nicht jeder Psychotherapeut die Kindheit seiner Klienten aufarbeiten will. Kennt Meißner in der Psychotherapie nur die Psychoanalyse? Warum unterschlägt er das ganze Spektrum der verhaltenstherapeutischen Therapien? Damit schreckt Meißner Menschen vor der Psychotherapie ab, die eine Psychoanalyse weder brauchen noch wollen.

20 Milliarden Euro Kosten

Dienstag, 8. November 2011 - 23:17

http://www.inqa.de/Inqa/Navigation/Themen/stress,did=259178.html

Psychische Belastungen am Arbeitsplatz verursachen Kosten in Milliardenhöhe

Arbeitsbedingte psychische Belastungen verursachen in Deutschland jährlich Kosten von gut sieben bis knapp 20 Milliarden Euro – je nachdem, ob man sich dabei auf arbeitsbedingte psychische Störungen im engen Sinne konzentriert, oder auch körperliche Erkrankungen hinzurechnet, die auf psychische Belastungen am Arbeitsplatz zurückzuführen sind. Das haben der Epidemiologe Wolfgang Bödeker und der Mathematiker Michael Friedrichs im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung ermittelt.

Psychische Probleme seien eine wesentliche Ursache für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung, schreiben die Wissenschaftler vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen beziehungsweise vom Institut für Prävention und Gesundheitsförderung an der Uniklinik Essen. …

Die Arbeitgeber sparen am Arbeitsschutz und belasten die Krankenkassen. Dazu passt: http://blog.psybel.de/wenn-arbeit-krank-macht/

Ansonsten noch die leider immer wieder nötige Anmerkung: Psychische Belastungen gehören zum Job. Was unnötige Kosten verursacht, sind psychische Fehlbelastungen.

Vorzeitiger unfreiwilliger Ruhestand

Montag, 17. Oktober 2011 - 08:31

http://www.sueddeutsche.de/karriere/
vorzeitiger-unfreiwilliger-ruhestand-aufhoeren-weil-die-seele-leidet-1.1165601

Aufhören, weil die Seele leidet

16.10.2011, 17:23
Von Thomas Öchsner

Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der Hauptgrund für den unfreiwilligen Vorruhestand – und der kommt immer früher: Wer vor 30 Jahren vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden musste, war im Durchschnitt 56 Jahre alt. Heute sind vor allem diejenigen, die wegen seelischer Leiden aufhören, wesentlich jünger. Das hat mehrere Gründe. …

Auf Seite 4 (SZ 2011-10-17) gab es dann von “tö” den Kommentar “Wenn Arbeit krank macht”. Der Kommentarschreiber liest anscheinend seine eigene Zeitung nicht. Und er suchte auch nicht in ihrem Archiv: “Wenn Arbeit krank macht” war an gleicher Stelle schon einmal der Titel eines Kommentars, und zwar in der SZ 2010-08-13.

“tö” fragt: “Was zu tun ist?”. Seine Antworten: “Arbeitnehmer müssen lernen, an sich selbst keine überzogenen Ansprüche zu stellen, und die Arbeitgeber dürfen ihre Untergebenen nicht als moderne Arbeitssklaven behandeln …”

Davon, dass diese beiden (die Situation nicht ganz nicht falsch, aber auch nicht ausreichend beschreibenden) Klischees wiedergekäut werden, werden sie auch nicht hilfreicher. Sie lenken von einem ganz anderen Problem ab: Wieso kommt der Kommentator nicht auf die Idee, zu fragen, ob überhaupt ehrlich und diszipliniert gefragt wird, “was zu tun ist”? Einiges, was zu tun ist, ist nämlich seit vielen Jahren vorgeschrieben, wird aber nicht getan. Je nach Quelle kann man erfahren, dass seit Jahren 16% bis (sehr optimistisch geschätzt) 50% der Unternehmer psychisch wirksame Belastungen nicht in die vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen mit einbeziehen. Seit spätestens 2004 verstößt die Mehrheit der Unternehmen gegen die Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes und die dazu gehörnden Urteile. Was wäre dagegen zu tun? Aufsicht! Und dass es an Aufsicht fehlt, sollte bei der SZ inzwischen auch bekannt sein.

Wenn die Leute locker bei Rot über die Ampel fahren dürften, würde sich sich doch auch niemand wundern, wenn mehr Verkehrsunfälle passieren. Es kann da doch keine allzu große geistige Herausforderung sein, zu fragen, wie sich der gewohnheitsmäßige Verstoß gegen die Pflicht der Arbeitgeber zum Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz (schon ganz am Anfang, also beim Fragen nach Gefährdungen) auf psychische Erkrankungen auswirkt.

SZ 2010-08-13, S. 4:

… Die Vorbehalte [der Firmen] gegenüber guter Prävention zeigen auch wieder, dass die Pläne von Gesundheitsminister Philipp Rösler [(damals war er das noch)] falsch sind, den Arbeitgeberanteil am Krankenkassenbeitrag einzufrieren. Damit würden künftig die Arbeitnehmer alleine dafür zahlen, dass Firmen durch schlechte Vorsorge die Gesundheit ihrer Belegschaft gefährden.

 



http://www.tagesschau.de/inland/fruehrente100.html

Zahlen im vergangenen Jahr laut Zeitung angestiegen
Psychische Erkrankungen häufiger Grund für Frührente

Die Zahl der Arbeitnehmer, die wegen einer psychischen Erkrankung vorzeitig in Rente, ist im vergangenen Jahr gestiegen. Das berichtet die “Süddeutsche Zeitung” unter Berufung auf neue Zahlen der Deutschen Rentenversicherung.

Demnach mussten sich im Jahr 2010 bundesweit fast 71.000 Frauen und Männer wegen seelischer Störungen vor Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren in den Ruhestand verabschieden. 2009 waren es noch knapp 64.500 gewesen. …

 


Abendzeitung München / dpa:
http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.rente-mit-depression-still-und-heimlich-in-die-fruehverrentung.c4d6a420-17fd-4ca7-878e-15e61e25d746.html
Mit Depression still und heimlich in die Frühverrentung

… Burnout ist kein neues Phänomen, aber es breitet sich aus wie ein Ölfleck auf dem Wasser. Die internationalen Konzern-Verflechtungen bei zunehmendem Konkurrenzdruck führen zu höheren Anforderungen an die Arbeitnehmer. Dabei spielen individuelle Fähigkeiten auch eine wichtige Rolle: Manche sind stress-resistenter als andere, die dann auch früher ans Limit kommen.

Um die fatale Entwicklung zu bremsen, muss nach Überzeugung aller Experten in den Betrieben vorbeugend gegengesteuert werden: Das Bundesgesundheitsministerium will dazu in Zusammenarbeit mit Firmen demnächst ein Stressabbauprogramm für Beschäftigte auflegen. …

Nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Warum weist die DPA auf die Bedeutung der individuellen Resilienz hin ohne auch die einfach nachprüfbare Missachtung der Arbeitsschutzregeln durch die Mehrheit der Unternehmen zu erwähnen? Warum will das Bundesgesundheitsministerium ein Stressabbauprogramm auflegen anstatt die Unternehmen endlich durch gründliche Gewerbeaufsicht zur Einhaltung bereits bestehender Vorschriften bewegen?

Die gute Nachricht: Wie man es richtig macht, zeigte jüngstens (entgegen meinen eigenen Vorurteilen) ausgerechnet eine CSU-Landesministerin. Und bereits im Jahr 2009 bohrte (entgegen meinen weiteren Vorurteilen) die FDP in Berlin an den richtigen Stellen nach. Hier sind ein paar Politiker der Presse voraus.

Gesundheitsbedingte Frühberentung

Montag, 12. September 2011 - 07:26

Der Bericht ist zwar aus dem Jahr 2006, das Problem wächst aber munter weiter.

Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 30,
Uwe G. Rehfeld, Robert Koch Institut, 2006-04-23
Gesundheitsbedingte Frühberentung
http://www.rki.de/cln_169/nn_199850/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/
GBEDownloadsT/fruehberentung,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/fruehberentung.pdf

S. 11:

… Im aktuellen Trendverlauf zeigt sich eine ähnliche Entwicklung für alte und neue Bundesländer mit einem weiteren Rückgang der Berentungsalter auf ein Niveau zwischen 49 und 51 Jahren. Dieses wird darauf zurückgeführt, dass jüngere und schwerere Erwerbsminderungsfälle in die Berentung gelangt sind, während Ältere die vorgezogenen Renten, insbesondere wegen Arbeitslosigkeit beantragen. Bemerkenswert ist darüber hinaus das niedrigere Zugangsalter bei Frauen (insgesamt 2003 49,2 Jahre; Männer: 50,7 Jahre). Dies ist auch auf einen hohen Anteil von Frühberentungen auf Grund psychischer Krankheiten (mit Durchschnittsalter 47,3 Jahre bei Arbeiterinnen und 48,3 Jahre bei Angestellten) zurückzuführen. …

S. 14:

… Bei der Frühberentung spielen insbesondere jene Krankheiten eine Rolle, die nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind, jedoch die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen. Von erheblicher Bedeutung sind zunächst die psychiatrischen Krankheiten (ICD-9: 290–319/ICD-10: F00–F99) [♀35,5%, ♂24,5%]. Es folgen in der Häufigkeit des Auftretens die so genannten »Verschleiß-Erkrankungen« des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes (ICD-9: 710–739/ICD-10: M00–M99)) [♀19,3%, ♂20,9%], Neubildungen (ICD-9: 140–239/ICD-10: C00–D48) [♀16,1%, ♂13,5%] und Krankheiten des Kreislaufssystems (ICD-9: 390–459/ICD-10: I00–I99) [♀7,2%, ♂16,1%]. …

S. 15:

… Das Gewicht der Krankheitsgruppen für das Berentungsgeschehen hat sich im Zeitablauf bei Männern und Frauen unterschiedlich entwickelt … . Seit 1983 hat sich der Anteil der Kreislauferkrankungen bei den Männern von ehemals fast 40 % auf nunmehr 16 % verringert. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Frühberentungen aufgrund von Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes zunächst von 15 % auf über 30 %; er liegt derzeit bei rund 21 %. Einen bemerkenswerten Verlauf haben darüber hinaus die Berentungen wegen psychischer Erkrankungen genommen: Ihr Anteil ist von rund 8 % im Jahr 1983 auf rund 24 % im Jahre 2003 angestiegen und dürfte als Indikator die zunehmenden psychosozialen Belastungen in Arbeitswelt und Gesellschaft abbilden. …

Das Grundmuster dieser Entwicklungen hat sich bei Frauen in ähnlicher Weise entwickelt: Frühberentungen wegen Kreislauferkrankungen sind im betrachteten Zeitraum von 37 % auf rund 7 % gesunken, der Anteil der psychischen Erkrankungen ist von unter 10 % auf die nunmehr häufigste Erkrankungsart mit rund 35 % angestiegen. Dieser Trend ist noch stärker als bei den Männern und dürfte auf die vielfältigen sozio-psychologischen Belastungen der heutigen Zeit hinweisen, die sich bei Frauen stärker auswirken. …

S. 17:

… Die aus gesundheitlichen Gründen mit einer Erwerbsminderung früher aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Rentner haben eine deutlich niedrigere Lebenserwartung. …

(Nachträglich hinzugefügt: Hervorhebungen, Anmerkungen in eckigen Klammern)

Haben die Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsichten deswegen seit 2006 strenger geprüft?

 


Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 48,
Manuela Nöthen und Karin Böhm, Robert Koch Institut, 2010-01-28
Krankheitskosten
http://www.rki.de/cln_169/nn_199850/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/
GBEDownloadsT/Krankheitskosten,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Krankheitskosten.pdf
, S. 19
11,3%: [Kostenanteil im Jahr 2006 psychischer Erkrankungen an allen Erkrankungen]
9,0%: unter 15 jahre
12,0%: 15 bis 29 Jahre
12,9%: 30 bis 49 Jahre
9,7%: 45 bis 64 Jahre
10,3%: 65 bis 84 Jahre
24,1%: über 85 Jahre

Absolut betrugen im Jahr 2006 die Kosten für psychische Erkrankungen 26,7 Milliarden Euro. (In der Tabelle auf S. 19 ist ein Fehler. Anstelle der 11,3% standen dort irrtümlicherweise 12,4%.)

www.irrsinnig-menschlich.de

Montag, 27. Juni 2011 - 07:21

http://www.irrsinnig-menschlich.de/html/fakten___zahlen.html#Oekonomie

… Gesundheitsökonomische Aspekte

Fast zehn Prozent der Fehltage bei den aktiv Berufstätigen haben mit seelischen Gesundheitsproblemen zu tun. Am stärksten betroffen sind junge Frauen und Männer zwischen 15 und 34 Jahren! (DAK-Report 2005; Gutachten des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“)

Frühverrentungen:
Schizophrenie und Depressionen zählen zu den zehn häufigsten Gründen für eine Frühverrentung bei Männern; bei Frauen stehen Depressionen an erster Stelle.
Im Vergleich zum Jahr 2000 stieg die Anzahl der Rentenanträge wegen Depressionen bei Männern um 23 Prozent, die Anzahl der Anträge aufgrund von Schizophrenie um 41 Prozent.
Im Jahr 2002 wurden über 7600 Frauen aufgrund von Depressionen zu Frührentnerinnen, 37 Prozent mehr als noch vor zwei Jahren.
Die wirtschaftlichen Kosten psychischer Gesundheitsprobleme belaufen sich schätzungsweise auf 3 bis 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. …

Gesundheitsmanagement als Schleier

Montag, 6. Juni 2011 - 08:07

Wolfgang Hien: Arbeitswelt und seelische Gesundheit, gute ARBEIT, 2011-05, S. 37-39
http://www.gutearbeit-online.de/archiv/beitraege/2011/2011_05_37_39.pdf (nicht mehr on-line) und http://www.wolfgang-hien.de/download/Arbeiten-2011.pdf:

Immer mehr Menschen können mit der Dynamik des Wirtschaftslebens nicht mehr mithalten. Sie werden seelisch krank. Die Daten der Krankenkassen und Rentenversicherung – psychische Erkrankungen stehen seit 2004 auf „Platz Eins“ der Frühberentungsgründe (Hien 2006) – sprechen eine deutliche Sprache. Neue Management-Techniken kalkulieren gezielt Erkrankungen ein. Betriebliches Gesundheitsmanagement wird häufig als Anpassungstraining an die neuen Verhältnisse missbraucht. Stattdessen käme es darauf an, im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes humane Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dazu ist es aber auch erforderlich, dass die Beschäftigten selbst ihre Haltung und ihr tägliches Verhalten ändern. …

„Gesundheitsmanagement” verschleiert oft die Ursachen.

… Das in vielen Unternehmen etablierte „Gesundheitsmanagement” im Sinne gesundheitsförderlicher Maßnahmen, die sich auf Verhaltensprävention konzentrieren, muss sehr kritisch betrachtet und bewertet werden. Nicht selten werden nämlich präventive und beteiligungsorientierte Konzepte zur humanen Arbeitsgestaltung umgangen oder gar verworfen und an deren Stelle ein konzeptionelles Vorgehen gesetzt, das alleine verhaltenspräventiv und leistungssteigernd angelegt ist. Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sollen nicht mehr im Sinne der Humanisierung verändert werden. Stattdessen werden Schwächere stigmatisiert und letztlich ausgegliedert. Arbeitsmediziner/innen, Sozialberater/innen und - inzwischen in wachsender Anzahl - auch Gesundheitswissenschaftler/innen werden zunehmend für diese Unternehmenspolitik instrumentalisiert.

Dieser Entwicklung sollte dringend Einhalt geboten werden. Es geht hier nicht darum, freiwillige Angebote allgemeiner Prävention hinsichtlich einer Verbesserung der Lebensweise zu kritisieren; es geht eher darum, diese Angebote nicht zu einer Pflichtveranstaltung werden zu lassen, die den Arbeits- und Gesundheitsschutz ersetzt. Gegen diese Entwicklung auf allen Ebenen - der betrieblichen wie der überbetrieblichen - gemeinsam mit allem in der betrieblichen Prävention Involvierten Professionen und Experten anzugehen, ist ein Gebot der beruflichen bzw. professionellen Verantwortungsethik. Ein Gesundheitsmanagement, das sich dafür einspannen lässt, Hochleistungsbelegschaften herauszuselektieren, verfehlt seinen Auftrag. …

(Der Link zu diesem Blog wurde nachträglich eingefügt.)

„Neue Management-Techniken kalkulieren gezielt Erkrankungen ein” ist vielleicht ein bisschen zu krass ausgedrückt. Ein Schwerpunkt neuer Managementechniken scheint mir eher Verantwortungsvermeidung zu sein. Das Arbeitsschutzgesetz nimmt die Arbeitgeber in die Pflicht zur Verhältnisprävention und verlangt von ihnen eine Selbstbeobachtung der Arbeitsverhältnisse ab (z.B. Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen), die ihnen eher unangenehm ist. Lieber ist den Arbeitgebern die Kür: Im Rahmen eines professionell nach Innen und Außen kommunizierten “Gesundheitsmanagements” bieten sie den Mitarbeitern werbewirksame “Angebote” zur “Gesundheitsförderung” an.

Dabei liegt der Schwerpunkt auf einer Verhaltensprävention, mit der die Arbeitgeber ihre Verantwortung zu den “eigenverantwortlichen” Mitarbeitern zu verschieben versuchen. Damit lassen sich nicht nur externe Auditoren einseifen, sondern auch eine Gewerbeaufsicht, die u.A. vergisst, dass der Arbeitgeber alle Kosten des gesetzlichen Gesundheitsschutzes zu tragen hat. Maßnahmen, für die Mitarbeiter Urlaubstage opfern und/oder Kosten tragen können, sind als Maßnahmen des Gesundheitsmanagements und/oder der Gesundheitsforderung möglich, aber dürfen nicht als Umsetzung der Forderungen des gesetzlichen Arbeitsschutzes bewertet werden.

Anstatt arbeitsbedingte Gefährdungen durch psychische Belastungen zu erfassen und zu beurteilen, vermeiden Arbeitgeber lieber die Wahrnehmung und Dokumentation von die seelische Gesundheit beeinträchtigenden Vorfällen und Risiken, da sich daraus eventuell Haftungsprobleme (mit Auswirkungen auf die an die Berufsgenossenschaften zu zahlenden Versicherungsbeiträge) ergeben. Auch sehr unangenehm für so manche Führungskraft: Die Erfassung von psychisch gefährdenden Vorfällen und Risiken könnte die Führungskultur im Betrieb in Frage stellen. Zudem ist das Erkennen psychische Fehlbelastungen komplizierter, als das Erkennen der Gefährdungen, denen sich der technische Arbeitsschutz widmet. Da die Gewerbeaufsicht das Thema auch nicht gut versteht, können Unternehmer hier leichter die Gesetze brechen und tun das oft auch. Das Gesundheitsmanagement muß dann nach innen und außen so verkauft werden, dass Verstöße gegen die Regeln des Arbeitsschutzes nicht auffallen – oder sogar mit Verachtung für als realitätsfern dargestellte Regeln gebilligt werden.

 


2012-11-15

http://www.politikexpress.de/betriebliches-gesundheitsmanagement-als-werkzeug-gegen-psychische-erkrankung-552442.html ist ein Beispiel für eine Darstellung, in der die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) von einer Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG, Saarbrücken) als Werkzeug gegen psychische Erkankungen angepriesen wird.

… Soll Gesundheitsförderung im betrieblichen Umfeld langfristig erfolgreich sein, ist ein unternehmensspezifisches Gesamtkonzept notwendig. „Im Sinne eines betrieblichen Gesundheitsmanagements wird die Grundlage gelegt, dass genau die gesundheitlich relevanten Umstände entdeckt, ausgewertet und mit passenden praktischen Maßnahmen (z. B. Rückenschule am Arbeitsplatz, Stresskompetenztraining etc.) angegangen werden können, die im Betrieb relevant sind“, so Allmann.

Die richtigen regionalen Ansprechpartner für BGM-Projekte liefert die bundesweite Initiative „Gesundheit im Betrieb selbst gestalten“, die vom Arbeitgeberverband deutscher Fitness- und Gesundheits-Anlagen und der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement initiiert wurde …

Für die private Hochschule spielt die Verhältnisprävention also nicht einmal im unternehmensspezifischen Gesamtkonzept eine Rolle, obwohl sie gesetzlich vorgeschrieben ist. Bei solchen Hochschulen können Arbeitgeber (und Hersteller von Turngerätschaften) vermutlich die “arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse” bestellen, die sie zur Verdrängung unangenehmerer Aufgaben im gesetzlichen Arbeitsschutz benötigen.

Die BGF kann durchaus verhaltenspräventive Beiträge gegen psychische Erkrankungen leisten, aber dabei den verhältnispräventiven Arbeitsschutz zu marginalisieren oder überhaupt nicht zu erwähnen, ist manipulative und irreführende Kommunikation. Wird hier ein Weg bereitet, der auch in Zukunft die straflose Missachtung der Regeln des ganzheitlichen Arbeitsschutzes ermöglichen soll?

Umgang mit psychischen Belastungen und Fehlbeanspruchungen

Montag, 14. März 2011 - 15:45

http://www.boeckler.de/pdf/mbf_bvd_psychische_belastungen.pdf:

Geißler, Heinrich
Umgang mit psychischen Belastungen und Fehlbeanspruchungen
Reihe: Betriebs- und Dienstvereinbarungen / Kurzauswertungen.

Düssedorf, 2011
ISSN: 1869-3032
31 Seiten

In den vergangenen Jahren haben psychische Belastungen am Arbeitsplatz stark zugenommen. Dabei sind Zeitdruck, schlechtes Führungsverhalten und Angst vor Arbeitslosigkeit maßgebliche Faktoren, die zu psychischen Fehlbelastungen führen. Die Zahl der Krankheitstage aufgrund psychischer Störungen steigt.

Von einer psychischen Fehlbelastung spricht man dann, wenn die Psyche über- oder unterfordert wird und sich die Beanspruchung negativ auswirkt. Eine positive Beanspruchung hingegen wirkt motivierend, anregend und wird als abwechslungsreich empfunden. Ressourcen können dann genutzt werden. In Unternehmen und Verwaltungen ist psychische Fehlbelastung weitgehend kein Thema mit dem man sich offensiv beschäftigt. Das legen auch die wenigen betrieblichen Vereinbarungen nahe, die uns hierzu vorliegen. Umso interessanter ist es, was die vorhandenen betrieblichen Vereinbarungen aufzeigen.

Für die Analyse wurden 15 betriebliche Vereinbarungen der Jahre 1998 bis 2010 ausgewertet. Es wird gezeigt, welche Regelungstrends zur Gestaltung des Themas Psychische Fehlbelastungen bestehen und wie die betrieblichen Akteure vorgehen.

Der Titel wurde hier etwas unglücklich gewählt: Besseren Bezug zum Inhalt hätte aus meiner Sicht der Titel Umgang mit psychischen Fehlbelastungen und Fehlbeanspruchungen.

Zusammenfassung (S. 5 der Kurzanalyse)

Aufgrund langfristiger Veränderungen in der Arbeitswelt – Auswirkungen der Globalisierung wie u. a. verdichtete und beschleunigte Abläufe, verschwimmende Grenzen von Arbeits- und Privatleben oder auch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise 2008 – haben psychische Belastungen zugenommen. Dies drückt sich sowohl in wachsenden Krankenständen aus als auch in Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen. Deshalb haben Betriebs- und Personalräte Regelungen zur Förderung der psychischen Gesundheit bzw. zur Verhinderung von psychischen Fehlbeanspruchungen durchgesetzt.

Im Rahmen dieser Kurzauswertung wurden 15 Vereinbarungen ausgewertet, die psychische Belastungen und Fehlbeanspruchungen unter folgenden Aspekten beleuchten:

  • Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen und Fehlbeanspruchungen nach dem Arbeitsschutzgesetz,
  • das gesetzlich vorgeschriebene betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) mit direktem oder indirektem Bezug zu psychischen Erkrankungen,
  • arbeitsbedingte oder private Belastungssituationen bzw. konkrete Belastungen oder deren Folgen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Mobbing oder andere Formen von Diskriminierung.

Die 15 ausgewerteten Vereinbarungen beinhalten vielfältige Ansatzpunkte, Vorgehensweisen, Modelle und Instrumente, um psychische Belastungen und Fehlbeanspruchungen zu erfassen und – durch entsprechende Maßnahmen, deren Bewertung und Kontrolle – zu verringern oder im Optimalfall zu beseitigen. Damit dies möglichst rasch gelingt, eignet es sich insbesondere, Grenzwerte festzulegen (vgl. Kap. 2.5 und 6), deren Überschreitung zwingend zu Maßnahmen führt. Um diese Maßnahmen wiederum möglichst schnell festzulegen, kann im Rahmen von Einigungsstellen zu psychischen Belastungen und Fehlbeanspruchungen ein Zwischenbeschluss gefasst werden (vgl. Kapitel 6). Durch ihn wird die Einigungsstelle fortgesetzt, falls sich die Betriebsparteien nicht auf Maßnahmen gegen die psychischen Fehlbeanspruchungen einigen.