Burnout auf dem Vormarsch

Donnerstag, 21. April 2011 - 21:08

http://blog.psybel.de/wp-content/uploads/2011/04/wido_pra_pm_krstd_0411.pdf (http://www.wido.de/meldungakt+M5f77dd480f8.html), Pressemeldung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, 2011-04-19:

Berlin. Nach einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) setzt sich der Anstieg von psychischen Erkrankungen unverändert fort. So ist 2010 nahezu jeder zehnte Ausfalltag auf eine psychische Erkrankung zurück zu führen. Bei der Untersuchung der Krankmeldungen von mehr als 10 Millionen AOK-versicherten Arbeitnehmern zeigt sich: Die Diagnose Burnout (Ausgebrannt) wird von den Ärzten zunehmend dokumentiert. Um nahezu das 9-fache sind die Krankheitstage zwischen 2004 und 2010 wegen Burnout angestiegen. Insbesondere Frauen und Menschen in erzieherischen und therapeutischen Berufen sind von einem Burnout betroffen. „Zeitdruck und Stress nehmen offenbar zu und die Gefahr besteht, dass die Menschen von zwei Seiten gleichzeitig ausbrennen, vom Beruf her und durch familiäre Belastungen“, so Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO.

Auch wenn vermutet werden kann, dass ein verändertes ärztliches Diagnoseverhalten, das in der Bevölkerung mit einem spürbar offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen einhergeht, diesen Anstieg mit verursacht, so können doch insbesondere die gestiegenen psychosozialen Belastungen am Arbeitplatz als Ursache benannt werden. „Auch vor dem Hintergrund dieser neuen Ergebnisse ist es wichtig, nicht nur die Belastungen im beruflichen Umfeld zu reduzieren, sondern auch die Ressourcen und den Umgang mit Stress bei jedem Einzelnen zu stärken“, empfiehlt Helmut Schröder. …

Der ersteinmal gut klingende Aufruf zur Fürsorge lenkt aber von den Prioritäten ab: Die Reduktion der Belastungen (also Verhältnisprävention) im beruflichen Umfeld ist eine Pflicht, die der Arbeitgeber zu erfüllen hat. Die Stärkung der Ressourcen und des Umgangs mit Stress bei jedem Einzelnen (das ist Verhaltensprävention) ist darauf nur ein optionales Sahnehäubchen.

Allerdings haben mehr als 80% der Betriebe in Deutschland immer noch nicht damit angefangen, in der im Arbeitsschutz geforderten Weise Belastungen im beruflichen Umfeld zu reduzieren. Warum empfiehlt Helmut Schröder den Gewerbeaufsichtsbehörden nicht, nun wirklich einmal genauer zu prüfen?

Belastungen, die zu einem Burnout führen können, lassen sich in einem Dreiebenenmodell einordnen:

  • (2) Die vorgeschriebene betriebliche Burnout-Prävention kann der zweiten Ebene zugeordnet werden: “psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, also der Gesamtheit der Ereignisse und Gegebenheiten aus dem Arbeitsumfeld einer Person, die von außen psychisch auf sie einwirken”. Der Arbeitsschutz schreibt Verhältnisprävention in dieser Ebene vor, nicht in der ersten und nicht dritten Ebene.
  • (1) Die Stärkung der Ressourcen und des Umgangs mit Stress bei jedem Einzelnen ist Verhaltensprävention. Sie liegt in der ersten Ebene: “Ressourcen und Kompetenzen der einzelnen Beschäftigten, mit Belastungen umzugehen”. Es geht also um eine Verbesserung der Beanspruchbarkeit (Resilienz) individueller Mitarbeiter. Das ist zwar ein lobenswertes Ziel, dessen Verfolgung mit einem “betrieblichem Gesundheitsmanagement” (BEM) oder einer “betrieblichen Gesundheitsförderung” (BGF) werbewirksam sein mag, aber unglaubwürdig ist, wenn gleichzeitig der in der zweiten Ebene geforderte Arbeitsschutz missachtet wird.
  • (3) Außerbetriebliche Belastungen in der dritten Ebene:
    • Die familiären Belastungen finden wir in der dritten Ebene: “außerbetriebliche, äußere Gegebenheiten”. Ein Beispiel für solche Belastungen ist die Betreuung der Eltern durch ihre Kinder. Heute sind diese “Kinder” oft die “jungen Alten”. Selbst wenn deren Eltern selbstverantwortlich vorgesorgt haben, kommen diese Eltern in ihren letzten Lebensjahren häufig in eine Situation, in der sie auch ihre legitimen Ansprüche nicht mehr aus eigener Kraft durchsetzen können. In einer Gesellschaft, in der Schutzrechte ihre Wirkung verlieren, wenn von den Geschützten erwartet wird, dass sie ihre Rechte selbst durchsetzen müssen, ist das ein Problem; die Unterstützung älterer Menschen durch genetisch nahestehende Nachkommen (die jedoch in Arbeitsprozesse eingespannt sind) wird auch in Industrieländern wieder wichtiger.
    • Eine zunehmende Belastung in der dritten Ebene ist auch die Auslagerung von Geschäftsprozessen zu Mitarbeitern, die in ihrem außerbetrieblichen Leben außerdem immer öfter für ihre Dienstleister (Banken usw.) arbeitenden Kunden sind, denn Komplexitätsreduktion ist bei sich “verschlankenden” Unternehmen häufig nichts anderes, als die Verlagerung von Komplexität zu Kunden (z.B. Bankkunden) und Lieferanten.
    • Auch der Arbeitgeber lagert Aufgaben auf externe Dienstleister und Zulieferer aus. Sie können dann wieder eine Quelle von möglichen Fehlbelastungen sein, auf die lokale Betriebsräte keinen Einfluss haben. Der Arbeitgeber kann hier nur beschränkt Einfluss nehmen, muss aber mit den Gefährdungen im Rahmen des Arbeitsschutzes umgehen, auch wenn er nicht dafür verantwortlich ist. Verantwortlich ist er jedoch für die Wirkung von ihm genutzter externer Prozesse auf die Mitarbeiter des Betriebes, da er ja schließlich Vereinbarungen mit externen Unternehmen getroffen hat, die dann aber auch die Belegschaft im Betrieb beansprucht.
    • Eine weitere außerbetriebliche Quelle von möglichen Fehlbelastungen, auf die lokale Betriebsräte ebenfalls keinen Einfluss haben, sind andere Betriebe innerhalb von Konzernen.
    • Und selbstverständlich sind Kunden eine Belastung. Der Arbeitgeber hat darauf zu achten, dass sie keine Fehlbelastung sind.

Die zunehmenden Belastungen in der dritten Ebene sind von Arbeitnehmern und Arbeitgebern (Betriebsleitungen) schwer zu beeinflussen, insbesondere wenn sie keine ausreichenden Ressourcen (Zeit, Hoffnung sowie Geduld gepaart mit Beharrlichkeit) haben, durch eigenes Engagement politische Veränderungen bewirken zu können. Gerade darum sind die in der zweiten Ebene vorgeschriebenen Arbeitsschutzmaßnahmen um so wichtiger.

In Diskussionen über den Arbeitsschutz können die erste und die dritte Ebene dazu dienen, von der Verantwortung der Arbeitgeber für die in der zweiten Ebene vorgeschriebene Verhältnisprävention abzulenken. Arbeitnehmervertretungen müssen darauf kompetent reagieren können.

Nicht nur die Gewerbeaufsichten sind überfordert, auch die AOK findet sich anscheinend nicht bereit, Arbeitgeber, die in der zweiten Ebene den Patienten dieser Kasse schon jahrelang das Recht auf einen ausreichenden Arbeitsschutz vorenthalten, stärker in die Pflicht zu nehmen. Was hindert die Krankenkassen und die Gewerbeaufsichten daran, genauer hinzusehen? Beispiel: eine Qualitätskontrolle der Gefährdungsbeurteilungen in den Betrieben ist eine ganz einfache Übung. Oft fehlt in ihnen der vorgeschriebene Einbezug psychische wirksamer Belastung völlig. Das ist einfach nachzuweisen.

 
Unter http://www.google.de/search?q=burn-out-auf-dem-vormarsch gibt es übrigens viele Treffer zu “Burnout auf dem Vormarsch”.

2011-08-18: http://blog.psybel.de/jeder-zehnte-ausfalltag-am-arbeitsplatz-psychisch-bedingt/


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