Bewusste Pflichtverletzung seit 2005

Samstag, 3. März 2012 - 08:10

Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.

Richard von Weizsäcker

 
http://blog.psybel.de/praeventive-arbeitsgestaltung-unter-nutzung-von-§§-90-91-betrvg/

Seit den 70er Jahren gibt es den gesetzlich verankerten gemeinsamen Auftrag für Arbeitgeber und Betriebsrat, arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit bei der Planung und Korrektur von Gestaltungsmaßnahmen zu berücksichtigen.

Uwe Dechmann, Sozialforschungsstelle Dortmund

Zu viele “Macher” vergessen gerne die Vergangenheit. Sie schauen lieber “nach vorne”, denn sie möchten zwar für ihre Verantwortung sehr gut entlohnt, aber für Pflichtverletzungen nicht verantwortlich gemacht werden. Sie verlangen göttliche Unantastbarkeit:

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn sehe, ich will ein Neues schaffen.

Jesaja 43, 18 – 19

Who controls the past controls the future. Who controls the present controls the past.

George Orwell

Geschichte, unter die ein Schlussstrich gezogen werden soll, ist in der Regel eben besonders interessant. Geschichte wird ja nicht nur vergessen, sondern auch noch geklittert. Wir schauen schon deswegen in die Vergangenheit, weil beispielsweise unsere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen heute versucht, die nachhaltige Missachtung der Pflicht zum Einbezug psychischer Belastungen mit “Unwissen und Hilflosigkeit” der Unternehmen zu entschuldigen. Das ist keine Enschuldigung, weil sich zeigen lässt, dass viele Unernehmer wussten was sie taten. Sie ließen das Thema bewusst schleifen und hatten mit ihrem wissentlich gepflegten Unwissen ihre Mitarbeiter die Krankheit getrieben. Dabei mussten politisch ausgebremste Aufsichtsbehörden untätig zuschauen. Unsere wirtschaftliche und politische Elite verletzte dabei nicht nur die Arbeitnehmer, sondern die Anarchie im Arbeitsschutz fügte auch dem Rechtsstaat Schaden zu.

Den ganzheitlichen Arbeitsschutz gibt es seit 1996. Aus den Vorschriften ergab sich damals schon eine Pflicht der Arbeitgeber, psychisch wirksame Belastungen in den Arbeitsschutz einzubeziehen. Seit dieser Zeit hatten nicht nur ein Großteil der Unternehmer, sondern auch Arbeitnehmervertretungen (Ausnahmen gab es, z.B. die Pionierarbeit des Betriebsrats der SICK AG) und Aufsichtspersonen ihre Lernkurve sehr flach gehalten.

Spätestens seit 2005 war den Arbeitgebern jedoch klar, was sie zu tun haben. Im Jahr 2004 gab es klärende Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts. Die BDA merkte nun, das es brenzlig wurde und veröffentlichte im Mai 2005 die Position der Arbeitgeber zur Bedeutung psychischer Belastungen bei der Arbeit. Zumindest bei größeren Unternehmen war das Thema also seit 2005 auf ihrem Radar. Aber selbst danach setzten sie nicht einmal das um, was im April 2000 in der eher arbeitgeberorientierten Zeitschrift für Arbeitswissenschaft Leistung und Lohn beschrieben wurde. Darum gehe ich davon aus, dass seit 2005 viele Arbeitgeber ihre Pflicht zum verhältnispräventionsorientierten Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz vorsätzlich missachteten. Mitverantwortlich ist hier aber auch eine Politik, die im naïven Vertrauen auf das Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen die Aufsichtsbehörden geschwächt hat.

Am Beispiel der BGFE (jetzt in der BG ETEM) kann man sehen, dass auch die Berufsgenossenschaften die von ihnen überwachten Unternehmen auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht hatten (2006). Leider führt z.B. die BG ETEM bis heute keine ausreichend gründlichen Prüfungen durch.

In Betrieben mit Bildschirmarbeit kann seit 1996 oft von einer vorsätzlichen Missachtung der Bildschirmarbeitsverordung ausgegangen werden, wenn psychische Belastungen nicht beurteilt wurden. Wurde eine Erfüllung der Bildschirmarbeitverordnung dokumentiert obwohl psychische Belastungen nicht beurteilt wurden, dann ist das eine unwahre Angabe in der Dokumentation des Arbeitsschutzes.

Im Jahr 2010 stellte die BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) fest, dass die große Mehrheit der Arbeitgeber das Thema “Psychische Belastungen” als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) nicht aufgreife. Erst Ende 2011 erkannte die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen auch öffentlich, “dass sieben von zehn Unternehmen das Thema [Arbeitsschutzbestimmungen auch mit Blick auf seelische Belastungen] schleifen lassen – meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit”. Was “schleifen lassen” anbetrifft, hat sie sich noch recht freundlich ausgedrückt; aber mit “Unwissenheit oder Hilflosigkeit” liegt sie ziemlich daneben, wie der Blick auf die Vergangenheit zeigt.

Meine Kritik richtet sich nicht so sehr gegen die Fachkräfte für Arbeitsschutz in den Betrieben oder gegen Aufsichtspersonen, die diese Betriebe (gelegentlich) besuchen. Das sind oft gutmütige Techniker und Chemiker, die psychische Belastungen überhaupt nicht im Blickfeld hatten. Hier gab es nicht durch Absicht, sondern durch Überforderung bedingte Unwissenheit und Hilflosigkeit. Verantwortlich sind viel mehr die oberen Führungskräfte in den Betriebs- und Behördenleitungen, die trotz Kenntnis ihrer Verpflichtungen diese Unwissenheit und Hilflosigkeit aufrecht erhielten. Die Thematisierung von Arbeitsbelastung wurde geradezu angestrengt vermieden.

Es gibt viele Gründe, die Geschichte der “Unwissenheit oder Hilflosigkeit” (Ursula von der Leyen, Dez. 2011) beim Einbezug psychisch wirksamer Belastungen in den Arbeitsschutz nicht in Vergessenheit geraten zu lassen:

  • Wir können aus Fehlern lernen.
  • Spätestens seit 2005 sparte sich die Mehrheit der Unternehmen die Kosten für den vorgeschriebenen Einbezug psychischer Belastungen in den Arbeitsschutz. Dank der dadurch erzielten Einsparungen können Unternehmen sich nun mit überdurchschnittlichen Budgets für einen hochwertigen Arbeitsschutz begeistern, und damit die erforderliche Nacharbeit beschleunigen - ohne jedoch deren Qualität zu mindern.
  • Wenn sich ein Unternehmen dazu entschließt, psychische Belastungen verspätet in den Arbeitsschutz einzubeziehen, können trotzdem die Risiken nicht vergessen werden, denen die Mitarbeiter durch die Pflichtverletzung des Unternehmens zuvor ausgesetzt waren. Zwischen psychischer Verletzung und psychischer Erkrankung können viele Jahre liegen. Eine vollständige Gefährdungsbeurteilung löst noch keine Probleme, sondern sie ist der erste Schritt zu Problemlösungen.
  • Die Gründe für die Missachtung der Regeln des Arbeitsschutzes durch Arbeitgeber müssen verstanden werden. Sind die Regeln nicht umsetzbar und/oder fehlt der Mehrheit der Arbeitgeber der Respekt gegenüber Schutzgesetzten?
  • Außerdem könnte ein Verständnis der Geschichte der mangelhaften Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes helfen, die Bedeutung von Arbeitnehmervertretungen besser zu verstehen und das (europäische) Entbürokratisierungskonzept zu überdenken, auf dem dieses Gesetz basiert.

Für Betriebe mit kompetenten und durchsetzungsfähigen Arbeitnehmervertretern ist der Gestaltungsspielraum, den ein Rahmengesetz für betriebsnahe Lösungen gibt, eine feine Sache. Dieser Gestaltungsspielraum begründet den an die Arbeitgeber gerichteten Gestaltungsimperativ und die starke Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Aber was geschieht in den vielen Unternehmen mit überforderten (und gelegentlich sogar gemobbten) Arbeitnehmervertretungen?

Wie wichtig Betriebsräte im Arbeitsschutz sind, sieht man an einem schönen Beispiel: Belastungen als Thema des Arbeitsschutzes führten kürzlich zur Gründung des ersten Betriebsrats bei Apple in München. Auch das ist ein interessantes Ereignis in der Geschichte des deutschen Arbeitsschutzes.

Siehe auch: http://blog.psybel.de/motivierendevorschriften/


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