Irrtümliche Abmahnung als Arbeitsunfall

Montag, 7. März 2016 - 07:08

[...] „Jeder Arbeitgeber hat seiner Belegschaft gegenüber eine Fürsorgepflicht, die er verletzt, wenn er unberechtigt eine Abmahnung ausspricht“, erläutert Rechtsanwalt Michalka. [...]

Quelle: www.focus.de. Die Kanzlei von Markus Michalka ist in München.

[...] Die betrieblichen Konsequenzen (Abmahnungen, Umsetzungen) stellen psychische Belastungen dar, die Selbstwertgefühl und positive Überzeugungen angreifen und depressive Entwicklungen befördern. [...]

Quelle: Ulla Nagel, Psychische Belastungen, Stress, Burnout?, 2012, ISBN 978-3-609-68453-6, S. 137

 
Ein Mitarbeiter wird drei Monate lang von seinem Arbeitgeber mit einer Abmahnung bedroht. Die Abmahnung beginnt so:

„Zu unserem Bedauern mussten wir feststellen, dass Sie Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten in schwerwiegender Weise verletzt haben. [...] Wir fordern Sie hiermit ausdrücklich auf, das oben geschilderte Verhalten zukünftig zu unterlassen und Ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß zu erfüllen. Im Fall einer Wiederholung des in dieser Abmahnung gerügten Verhaltens behalten wir uns vor, Ihr Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß, gegebenenfalls sogar außerordentlich fristlos, zu kündigen. [...]“

Der Mitarbeiter fordert den Arbeitgeber mit einer Klageandrohung zur Rücknahme der Abmahnung auf. Der Arbeitgeber zieht die Abmahnung darauf drei Monate nach ihrer Erteilung zurück, ohne das der Rechtsweg beschritten werden muss. Die Abmahnung wird als „gegenstandslos“ erklärt. Der Fall ist damit zwar arbeitsvertragsrechtlich abgeschlossen, nicht jedoch arbeitsschutzrechtlich.

Kann es im Bereich der psychischen Belastungen „Unfälle“ geben?

Dieser Fall ist ein Beispiel dafür, wie eine Unfall im Gefährdungsbereich der psychischen Belastungen aussehen kann. Die Bedrohung eines Mitarbeiters mit einer irrtümlich erteilten Abmahnung ist angesichts der klaren Fehlbelastungssituation gut dazu geeignet, zu überprüfen, wie gut das Arbeitsschutzmanagementsystem eines Arbeitgebers im Bereich der psychischen Belastungen funktioniert.

Konkrete Fälle dieser Art gibt es immer wieder, denn Irren ist menschlich. Aber auch ohne böse Absicht können irrtümliche Abmahnungen Schäden verursachen. Mit der Rücknahme einer solchen Abmahung beginnt dann im modernen ganzheitlichen Arbeitsschutz die Pflicht des Arbeitgebers zur Erfassung und Bewertung eines derartigen Vorfalls. Grundlage dafür ist nicht nur die Fürsorgepflicht, sondern das Arbeitsschutzgesetz. Der Betriebsrat eines Betriebes, in dem solch ein Vorfall stattfand, setzt sich deswegen dafür ein, dass der Vorfall als „arbeitsbedingte psychische Fehlbelastung“ erfasst, beurteilt und dokumentiert wird.

Das ist nicht einfach. Was könnte der Grund dafür sein? Wenn sogar eine derart offensichtliche psychische Fehlbelastung (wie diese ungerechtfertigte Abmahnung) nicht als arbeitsbedingte psychische Fehlbelastung registriert und bewertet würde, dann würde deutlich, dass sich das Unternehmen grundsätzlich gegen die Dokumentation von Fällen wehren wird, in denen Arbeitnehmer vom Arbeitgeber psychisch fehlbelastet wurden. Das ist eine Erkenntnis, die über diesen einfachen und konkreten Einzelfall hinausgehend hilft, die Hemmnisse zu verstehen, die sich der Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes im Bereich der psychischen Belastungen entgegenstellen.

Die Dokumentation psychischer Fehlbelastungen fällt manchem Arbeitgeber recht schwer. Nach meinem Eindruck sind es insbesondere Rechtsabteilungen der Unternehmen, die die Dokumentation psychischer Fehlbelastungen so weit vermeiden wollen, wie das möglich ist. Für Juristen könnte die kühle und sachliche Abwägung so aussehen: Das Fehlen von Gefährdungsbeurteilungen und Vorfallsuntersuchungen für psychische Belastungen und Fehlbelastungen ist nur eine Ordnungswidrigkeit. Diese Ordnungswidrigkeit wird auch heute noch von der großen Mehrheit der Unternehmen in Deutschland begangen, aber sie wird von der Gewerbeaufsicht bisher weder klar protokolliert noch ernsthaft bestraft. Haftungsansprüche der Beschäftigten, die auf gut dokumentierten Gefährdungsbeurteilungen und Vorfallsbeschreibungen aufbauen können, sind im Vergleich zu den Konsequenzen dieser Ordnungswidrigkeit das größere Risiko für das Unternehmen. Der Verstoß gegen das Arbeitsschutzgesetz erweist sich nach kühler Abwägung als die für das Unternehmen günstigere Lösung.


Nachtrag (2016-04-03): Nach Auffassung der Gewerbeaufsicht ist eine ungerechtfertigte Abmahnung kein Arbeitsunfall.


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