Hansjörg Becker: Verhältnisprävention ist nachhaltiger

Donnerstag, 7. Januar 2016 - 21:51

Anlässlich der Verleihung des Corporate Health Awards 2015 hielt Dr. Hansjörg Becker einen Vortrag (VORTRAG_Dr.HJ_Becker_INSITE_Interventions.pdf), den Sie sich von der CHA-Website herunterladen können. (Dazu ist ein Passwort erforderlich, dass sie über eine auf der Seite angegebene Email-Adresse abfragen können.) Darin geht es um die Gefährdungsbeurteilung sowie Verhaltensprävention und Verhältnisprävention. “EAP als Umsetzungsmaßnahme nach Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung” ist der Titel der Präsentation.

In seinem Vortrag stellte Hansjörg Becker fest, dass bei der Minderung psychischer Fehlbelastungen die Verhältnisprävention nachhaltiger als Verhaltensprävention sei – wenn die Verhältnisprävention richtig implementiert ist. Das ist interessant, den ein EAP (Employee Assistance Program/Plan) bearbeitet primär individuelle Mitarbeiter verhaltenspräventiv und weniger fehlbelastende Arbeitsplätze verhältnispräventiv. Einzelne Mitarbeiter auf die Couch zu bringen, ist die letztmögliche Wahl im Arbeitschutz, denn dort sind individuelle Schutzmaßnahmen nachrangig zu anderen Maßnahmen.

Wenn INSITE-Interventions sich als externer Dienstleister zu einer Meldung von Fehlbelastungen anböte, die die Mitarbeiter vor Repressalien schützt, dann wäre das eher ein Beitrag zum Arbeitsschutz. Einen tatsächlichen Beitrag zum Arbeitsschutz leistet INSITE-Interventions in diesem Sinn mit seinem Reporting (Punkt 14 im FAQ):

Wir erstellen in größeren Zeitabständen ein anonymisiertes Reporting über die Häufigkeit der Nutzung und über kategorisierte Beratungsanlässe. Das Reporting ist so gehalten, dass man keinerlei Rückschlüsse auf die Identität der Nutzer ziehen kann.

In seinen seriösen Veröffentlichungen Evaluation des EAP von INSITE und Qualitätsanforderungen an ein EAP stellt INSITE-Interventions das EAP auch nicht als Arbeitsschutzmaßnahme dar.

Hansjörg Becker fasst seinen Vortrag so zusammen:

  1. Nur geringe Evidenz für die Wirksamkeit von Verhältnisprävention
    Wenn aber wirksam, dann spät einsetzend und länger andauernd
  2. Bessere Evidenz für die Wirksamkeit von Verhaltensprävention
    Schnell einsetzend aber nur kurz wirksam
  3. Beste Wirksamkeit für kombinierte Interventionen
    Wirkt schnell und nachhaltig. Einschränkung: nur SEHR wenige Studien

Sein Resümee:

  1. Bei Bestehen von relevanten Risiken im Rahmen der Gefährdungsanalyse sollen schnell wirksame; also verhaltenspräventive Maßnahmen eingeführt werden
  2. Da sie aber nur kurzfristig wirken, müssen sie mit langfristigen Maßnahmen kombiniert werden.
  3. Das spezielle von EAP ist, dass es zwar auf den ersten Blick verhaltenspräventives Programm ist, und daher schnell wirksam sein kann, dass es aber auf langfristige Wirkung ausgelegt ist. Unsere Kunden nutzen ihre EAPs dauerhaft, z.T. über 10 bis 15 Jahre.

Langfristig kann EAP verhaltenspräventive und verhältnispräventive Ansätze verbinden

Sobald EAP als Arbeitsschutzmaßnahme zum Einsatz kommt, haben Betriebsräte und Personalräte (wo es sie gibt) eine besondere Mitbestimmungspflicht. Hat INSITE-Interventions dafür ein Konzept? Hansjörg Becker unterteilt richtig:

  • Verhältnisprävention ist Primärintervention
  • Verhaltensprävention ist Sekundärintervention

Hier müssen Betriebs- und Personalräte mit einem eigenen und unabhängigen Berater sicherstellen, dass die Primärintervention gut umgesetzt wurde bevor die Sekundärintervention zum Zug kommt.

Beckers Vortrag hat eine Schwäche: Er führt viele Studien an, versäumt aber darzustellen, dass der inzwischen gut dokumentierte Widerstand der Arbeitgeber gegen die Verhältnisprävention Untersuchungen zur Verhältnisprävention erschwert. Dass die große Mehrheit der Arbeitgeber sich über viele Jahre hinweg (mit Hilfe einer systemisch überforderten Gewerbeaufsicht) über das Arbeitsschutzgesetz stellten, erwähnt Becker nicht, sagt aber: “Nur geringe Evidenz für die Wirksamkeit von Verhältnisprävention”. Einen der Gründe für die “geringe Evidenz” verschweigt Becker: Wenn die Verhältnisprävention rechtsbrecherisch sabotiert wird, kann sie natürlich nicht gut funktionieren.

Zur Gefährdungsbeurteilung meint Hansjörg Becker dann auch ohne Hinweis auf die jahrelange gesetzeswidrige und durchaus schon vorsätzliche Sabotage, dass für Gefährdungsbeurteilungen zum Nachteil von Schutzmaßnahmen zu viel Aufwand getrieben werde. Ich glaube, dass er den Grund dafür nicht versteht. Meine Meinung ist, dass sich der Aufwand vor allem aus dem Widerstand der Arbeitgeber gegen ihnen unangenehme Gefährdungsbeurteilungen ergibt. Das die große Mehrheit der Arbeitgeber immer noch keine ordentlichen Verfahren zur Beurteilung psychischer Belastungen implementiert hat, ist kein Versehen. Arbeitgeber, die einerseits komplizierte Verfahren zur Mitarbeiterbewertung implementieren können, andererseits aber über viele Jahre hinweg die Implementierung von Verfahren zur Beurteilung psychischer Fehlbelastungen verschleppen, sabotieren den Arbeitsschutz vorsätzlich. Sie mögen keine Gefährdungsbeurteilungen, die sich auf ihre Führungskultur auswirken könnten und meinen, dass sie das berechtige, Recht zu brechen. Die Ausrede “Unwissen und Hilflosigkeit” ist gerade bei Großunternehmen mit zertifizierten Arbeitsschutzmanagementsystemen einfach nicht glaubwürdig.

Kurz: Viele Unternehmer mögen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen nicht und meinen, das gäbe ihnen das Recht, sich über das Gesetzt zu stellen. Das ist in Deutschland möglich  – und das macht die Einführung von Verfahren zur Beurteilung solcher Gefährdungen verständlicherweise etwas komplizierter. Bei der Bewertung der Sinnhaftigkeit der Verhältnisprävention darf die gegen die Beurteilung arbeitsbedingter psychischer Belastungen gerichtete Subversion der Mehrheit der Arbeitgeber nicht ignoriert werden.


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