Erkenntnis

Mittwoch, 12. November 2014 - 22:11

In einem nach OHSAS 18001:2007 zertifizierten Unternehmen versuchte eine engagierte Sicherheitsfachkraft (SIFA), einen arbeitsschutzrelevanten Vorfall (Mobbing) in eine der vielen, sich aus den Begriffsbestimmungen 3.9 und 3.8 ergebenden Vorfallsarten einzuordnen. Es war zwar keine Erkrankung des Opfers zu erkennen, aber es lag nach erster Einschätzung der SIFA eine massive psychische Fehlbelastung vor.

Eng angelehnt an die Begriffsbestimmungen 3.9 und 3.8 nach OHSAS 18001:2007, hatte der Arbeitgeber im Handbuch seines Arbeitsschutzmanagementsystems (AMS) korrekt definiert:

  • Vorfall: Arbeitsbezogenes Ereignis, das eine Verletzung oder Erkrankung (ohne Berücksichtigung der Schwere) oder einen tödlichen Unfall zur Folge hatte oder hätte zur Folge haben können.
  • Erkrankung: Erkennbarer, nachteiliger physischer oder mentaler Zustand, der durch eine Arbeitstätigkeit und/oder durch eine Arbeitssituation entstanden ist und/oder verschlechtert wurde.

Die SIFA fand diese Begriffsbestimmungen gut und wollte nun Gebrauch von ihnen machen. Es ging zum Glück nicht um Verletzungen oder Tod; somit fielen diese beiden Vorfallsarten schon einmal weg. Sondern es ging um einen arbeitsbedingten und fehlbelastenden Vorfall, der zu einer psychischen Erkrankung hätte führen können. Deswegen entschied sich die SIFA auf Basis der Optionen, die die Begriffsbestimmungen des Arbeitgebers anbieten, zu einer Einstufung des Vorfalls wie folgt:

Arbeitsbezogenes Ereignis, das eine Erkrankung (ohne Berücksichtigung der Schwere) hätte zur Folge haben können. (Erkrankung: Erkennbarer, mentaler Zustand, der durch eine Arbeitssituation entstanden ist.)

Der von seiner Rechtsabteilung beratene Arbeitgeber behauptete nun jedoch, dass die betroffene Mitarbeiterin wegen der Wortes “erkennbarer” nachweisen müsse, dass sie erkrankt sei. Die SIFA dachte scharf nach und entwickelte - zum Vergleich - die folgende Formulierung:

Arbeitsbezogenes Ereignis, das eine Erkrankung (ohne Berücksichtigung der Schwere) hätte zur Folge haben können. (Erkrankung: Erkannter, mentaler Zustand, der durch eine Arbeitssituation entstanden ist.)

Verstehen Sie den Unterschied? Eben. Im AMS-Handbuch ist von erkennbaren Erkrankungen die Rede und nicht von erkannten Erkrankungen! Es gilt das AMS-Handbuch.

Das ist auch gut so, denn es geht im Arbeitsschutz erst einmal um die Beurteilung der Belastungsquelle und nicht an erster Stelle um eine Untersuchung der psychischen Verfassung der von dieser Belastung beanspruchten Person. Die Anamnese einer möglichen Erkrankung dieser Person mag zwar wichtig sein, man kann das jedoch zum Schutz der Privatsphäre von der Ereignisuntersuchung trennen. Wenn erst der Nachweis einer psychischen Erkrankung vorgezeigt werden muss, bevor ein wahrscheinlich psychisch fehlbelastender Vorfall erfasst und beurteilt wird, dann besteht der Verdacht, dass der Arbeitgeber sich mehr um die Minderung von Haftungsrisiken kümmert, als um seine Pflichten im Arbeitsschutz.

Fazit: Es gibt Arbeitgeber, die sich gerne ein über die gesetzlichen Vorschriften hinausgehendes AMS zertifizieren lassen und damit werben. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie dieses AMS - und die anspruchsvollen Entscheidungskriterien, die es liefert - dann auch wirklich anwenden wollen. Darum muss eine SIFA nicht nur die Selbstverpflichtungen, sondern auch die Argumentationstechniken des Arbeitgebers sehr gut verstehen, um dann bei Diskussionen mit dem Arbeitgeber mit dessen eigenen Maßstäben argumentieren zu können.

Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie lange diese mutige SIFA (wenn es sie wirklich gäbe) bei diesem Arbeitgeber (wenn es den wirklich gäbe) beschäftigt bleiben wird.


Kommentare sind geschlossen.