Bevormundung

Dienstag, 3. Dezember 2013 - 19:29

Ich habe im IT-bereich ein amerikanisches Unternehmen kennengelernt, in dessen deutschen Niederlassungen sich sehr gut bezahlte Mitarbeiter vermutlich auch selbst dadurch definieren, dass sie Belastungen aushalten, die in anderen Unternehmen Fehlbelastungen sind. Die Mitarbeiter sind stolz darauf. Die Forderungen des Arbeitsschutzgesetzes und gesetzliche Arbeitszeitregelungen werden deswegen, vereinfacht gesagt, auch von der Mitarbeitervertretung als Bevormundungen dargestellt. Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter missachten deswegen Gesetze und Vorschriften. Es gibt keine Prozesse zur Gefährdungsbeurteilung der mentalen Arbeitsbelastung. Die Gewerbeaufsicht erkennt aber keine Abweichungen. “Great Place to Work” lobt das Unternehmen sogar.

Deutschland scheint ein Land zu sein, in dem sich Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter ganz einfach das Recht nehmen können, Gesetze zu missachten, die im Widerspruch zu ihrer “Firmenkultur” stehen. Rechtsstaatlichkeit ordnet sich vermeintlich “pragmatisch” dem unter, was wir als Zwänge des Wettbewerbs akzepieren zu müssen meinen. (So verstärken sich diese Zwänge natürlich von selbst.) Dass Arbeitnehmervertretungen, die Gewerbeaufsicht und wichtige Ranking-Unternehmen diese Anarchie tolerieren (oder sich sogar davon beeindrucken lassen), macht den Rechtsbruch nicht erträglicher.

Nehmen wir nun einmal an, dass der Verzicht des Betriebsrates auf die Ausübung seiner eigentlich unabdingbaren Pflicht zur Überwachtung der Einhaltung von Schutzrechten von der Mehrheit der Mitarbeiter akzeptiert würde. Dann stellen sich mehrere Fragen, z.B.:

  • Wie gut kennt der Betriebsrat das Arbeitsschutzgesetz und bestehende praktische Umsetzungen des Gesetzes überhaupt?
  • Haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirklich verstanden, wie psychische Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung einbezogen werden müssen?
  • Wissen die Mitarbeiter, welche ihnen zustehenden Rechte ihnen mit dem Einverständnis des Betriebsrates genommen werden?
  • Bevormundet der Betriebsrat nun nicht seinerseits jene Mitarbeiter, die im politischen Prozess legitim ausgehandelten Gesetze nicht nocheinmal selbst erstreiten wollen?
  • Ist eine Gewerbeaufsicht, die der Missachtung des Arbeitsschutzgesetzes tatenlos zusieht, gefährlicher, als gar keine Aufsicht?

Die Fragen sind hier nicht abschließend aufgelistet.

Die Werte, die dieses Elite-Unternehmen für sich sieht, werden in der Außen- und Innenkommunikation des Unternehmens stark selbstbezüglich stabilisiert. Es geht um Leidenschaft, und zwar genau im Sinn des Wortes.

Das Mindeste, was ich Betriebsräten von Unternehmen empfehle, deren Mitarbeiter sich als leistungsstarke und passioniert arbeitende Elite sehen, ist beispielsweise der IMPULS-Test. Wenn das Unternehmen wirklich Elite ist, dann sollte es so einen Test aushalten können. Der IMPULS-Test erlaubt den Mitarbeitern nicht nur, ihre Belastungssituation zu beschreiben, sondern darüber hinaus auch Maßstäbe für den von ihnen gewünschten Grad der Belastung zu setzen.

Wenn das Unternehmen und der Betriebsrat jedoch meinen, sie könnten das Ergebnis einer wissenschaftlich fundierten Mitarbeiterbefragung vorhersagen und bräuchten sie deswegen nicht, dann geben sie selbst schon die Antworten, die eigentlich von den Mitarbeiter kommen sollten. Auch so kann Bevormundung aussehen.


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