Es muss erst viele Tote geben, bis wir aufwachen

Montag, 13. Juni 2011 - 10:01

“Ich sehe keinen Handlungsbedarf” ist eine beliebte Phrase von Wegsehern. Es fehlt oft das für das Erkennen von Handlungsbedarf notwendige Wissen. Fukushima war wohl eines der krassesten Beispiele für Unwissenheit und Hilflosigkeit im Umgang mit Risiken. Hier hatten sich die Verantwortlichen ihre Unwissenheit hart erarbeitet und auch ihre Hilflosigkeit hatten sie erfolgreich erlernt, aber manchmal lässt sich das Hinsehen lästigerweise nicht mehr vermeiden, wie ein anderes Beispiel zeigt:

http://www.tagesschau.de/inland/eheciv100.html, Es muss erst viele Tote geben, bis wir aufwachen, 2011-06-06:

tagesschau.de: Sie warnten schon 1998, dass Deutschland das EHEC-Risiko unterschätzt. Was ist das eigentlich für ein Gefühl, so spät Recht zu bekommen?

[Klaus] Weidmann: Das ist schlimm und ärgerlich! Ich habe nicht gedacht, dass das hier mal soweit kommen könnte. Das macht mich wütend. Es ist ärgerlich, dass so viele Tage vergangen sind, bis man aufwacht, um nachzudenken: Wie wollen wir die Labore ausstatten? Wer ist eigentlich verantwortlich? Wie ist das mit der Meldepflicht? Wer organisiert die Aufklärung der Bevölkerung? Das Meiste wurde in all den Jahren versäumt.

Beim Einbezug psychischer Belastungen werden die Folgen ebenfalls seit langer Zeit ignoriert. Die Todesursachen in diesem Bereich sind allerdings nicht so leicht identifizierbar, wie bei EHEC. Auf einer Tagung meinte einmal eine Psychologin (die für eine Organisation im Bereich der Arbeitssicherheit Unternehmen beobachtet) zu mir, dass sie erst tätig werden dürfe, “wenn in einem Unternehmen Zustände herrschen wie bei France Télécom”.

Die von tagesschau.de geklaute Überschrift “Es muss erst viele Tote geben, bis wir aufwachen” klingt vielleicht ein bisschen hysterisch. Aber ich könnte mir vorstellen, dass schon in Deutschland mehr Menschen an Karōshi sterben, als an EHEC. Aber Karōshi fällt weniger auf und die Ursachenkette ist weniger klar. Auch hat die Aufmerksamkeit für die verschiedenen von Menschen verursachten Todesursachen mehr mit deren Wahrnehmbarkeit als mit deren Bedeutung zu tun.

Auch ist gerne die Wirkungskette umstritten. So eindeutig wie bei biologischen Belastungen (bei EHEC) oder physikalischen Belastungen (bei Super-GAUs) werden sich Erkrankungen nur in ganz seltenen Fällen so eindeutig auf psychische Fehlbelastungen zurückführen lassen, dass für ihre Verantwortung hochbezahlte Führungskräfte für Schäden verantwortlich gemacht werden können, die sie ihren Mitarbeitern zufügten. Dazu ist nichteinmal Vorsatz nötig. Desinteresse reicht schon.

Bis 1996 waren Unternehmen hier weitgehend sicher vor Haftungsansprüchen, weil die notwendigen Gesetze fehlten.
Nach 1996 sind Unternehmen hier weitgehend sicher vor Haftungsansprüchen, weil die notwendigen Gesetze missachtet werden dürfen.

Tote helfen manchmal, “Handlungsbedarf” zwangsweise erkennen zu müssen. Am Arbeitsplatz psychoreaktiv verursachte Erkrankungen werden aber nie “genügend” Tote liefern, es sind die (bisher noch nicht auf die Opfer abwälzbaren) Kosten, die die Kassen ein bisschen aufgeweckt haben. Der nur in den seltensten Fällen mögliche Beweis, dass eine psychische Fehlbelastung eine Erkrankung verursacht hat, bekam Konkurrenz: Die Unternehmen wurden gezwungen, hinzusehen, wo sie wegen der daraus entstehenden Haftungsgründe nicht hinsehen wollen. Jetzt kann das Hinsehen (oder das Wegsehen) gemessen werden.

Der Zwang ist jedoch sehr sanft: Wer (wie die große Mehrheit der Unternehmen) psychische wirksame Belastungen seit 1996 nicht mitbestimmt in den ganzheitlichen Arbeitsschutz einbezieht, begeht nur eine Ordnungswiedrigkeit (Straftat nur bei wiederholtem Verstoß und bei Behinderung des Betriebsrates). Dieses Risiko scheint jedoch geringer zu sein, als in Gefährdungsbeurteilungen bisher ignorierbare Fehlbelastungen zu dokumentieren, und dadurch Haftungen zu riskieren, denen Unternehmer bisher ausweichen konnten. (Dreiste Hintergrundmusik dazu: Appelle an die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter.)

Fehlende Handlungsbereitschaft: Unternehmen greifen ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) das Thema “Psychische Belastungen” als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung (GB) i. d. R. nicht auf.

Gewerkschaften, Betriebsräte (und gelegentlich auch Arbeitsschutzbehörden) können Lebensqualität retten, vielleicht sogar Leben.


Kommentare sind geschlossen.